Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Andrei Pleşu
Zur Einführung in das Gespräch über die »Bukarester Debatte über Europa«

Als wir Anfang 2014 zusammen mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der S. Fischer Stiftung, der Allianz-Kulturstiftung und dem New Europe College in Bukarest eine Debatte über das heutige Europa skizzierten, hatten wir uns nicht vorgestellt, wie aktuell, ja schlicht »brennend« die Debatte zu dem Zeitpunkt werden sollte, als sie tatsächlich stattfand, nämlich im September 2014. Inzwischen hatte sich die politische Situation östlich der EU-Grenze zusehends und gravierend verschlechtert und warf somit einen beunruhigenden Schatten düsterer Vorahnungen auf die Geschehnisse im Vorfeld des 100. Jahrestages des Ersten Weltkriegs. Die sogenannte »Europäische Nachbarschaftspolitik« (European Neighborhood Policy) sah sich auf einmal mit einer Herausforderung konfrontiert, gegen die sie nicht gewappnet zu sein schien. Heute schreiben wir Februar 2015 und die Lage verschlechtert sich kontinuierlich. Allmählich beginne ich, abergläubisch zu werden: Jedes Mal, wenn wir eine Debatte planen, werden wir von der schier unkontrollierbaren Realität überholt. Sollten wir nach diesem Procedere fortfahren, riskieren wir, vorwegnehmend ein Desaster zu entfachen... Zum Vergleich: Der Kontext der Bukarester Konferenz schien – im Unterschied zur jetzigen Situation – viel weniger besorgniserregend zu sein. Besorgt waren wir allerdings auch damals – und so dachten wir, unsere Besorgnis in vier wichtigen Reflexionsthemen zu »organisieren«:

I. Wie sehen Zusammenleben und Nachbarschaft in Europa aus: Diplomatie, Sanktionen, Krieg

Selbstredend waren wir uns einig, dass niemand Gewalt gutheißt. Anderseits gilt das Prinzip »Pacta sunt servanda« nicht immer für alle Beteiligten (etwa für die Russische Föderation). Wie lange kann man diplomatische Verhandlungen verlängern? Hier zeigt das Beispiel der Kosovo-Krise, dass die wiederholten Versuche, vernünftige Lösungen zu finden, den Krieg letztendlich nicht verhindern konnten. Wie ertragreich sind andererseits Wirtschaftssanktionen? Und eine weitere Frage: Welche Sicherheitsgarantien erhalten von den internationalen Organisationen jene Länder, die sich in der unmittelbaren Nachbarschaft weitreichender Konflikte befinden? Welchen künftigen Status können (oder dürfen) sich Staaten erhoffen, die noch keinem der existierenden Machtblöcke zugehörig sind? Ist das politische Projekt »Europa« substantiell genug? Zu berücksichtigen sind ferner auch die Spuren des historischen Vermächtnisses in Osteuropa (das Verhältnis Rumänien-Moldaurepublik, Polen-Ukraine, Ukraine-Russland, Russland-Krim).

II. Die nahen und die fernen »Nachbarn« Europas: Russische Föderation und USA

Eine Folge der »Globalisierung« ist die Tendenz jeder lokalen Spannung, weltweite Wirkungen zu erzeugen. Bei der Lösung der regionalen Probleme in der Nähe seiner Grenzen muss Europa auch den Interessen, dem Druck und der Solidarität jener Partner Rechnung tragen, die – obwohl in gehöriger Entfernung liegend – ein Wort mitzureden haben. Gemeint sind hier die USA, ein traditioneller, wenn auch geographisch ferner Nachbar, der alle europäischen Krisen begleitet hat. Ist die »transatlantische« Nachbarschaft eine Garantie für politische Stabilität im Verhältnis zur »Nachbarschaft« der Russischen Föderation (und ihrer potentiellen Verbündeten in Asien)? Inwiefern sind die Strategien der USA mit jenen der Europäischen Union deckungsgleich und wie homogen sind die politischen Visionen der einzelnen europäischen Staaten selbst? Stehen uns effiziente Instrumente zur Verfügung, um die Anfälle von Autoritarismus und »illiberaler Demokratie«, so wie sie in einigen Mitgliedsstaaten um sich greifen, wieder ins Lot zu bringen?

III. Europäertum und Ethnizität – eine Neuerfindung des »Nationalstaates«?

Trotz der Globalisierung und der gemeinschaftlichen europäischen Rhetorik scheinen die einzelnen Nationen gewisse Schwierigkeiten zu haben, wenn es darum geht, den Grundsatz der Kooperation, der konzertierten Aktion auf wirtschaftlicher und politischer Ebene (womit u.a. gewisse Souveränitätsverluste verbunden sind) mit dem Gefühl der ethnischen Identität, der lokalen Traditionen und des nationalen Ehrgeizes zu versöhnen. Die Europäische Union hat es bislang verfehlt, die effizienteste Methode zu finden, um diese gegensätzlichen Tendenzen in ein Gleichgewicht zu bringen. Gerade der europäische Diskurs erzeugt paradoxerweise oftmals zentrifugale Tendenzen. In Ost und West gleichermaßen sind wir Zeugen eines besorgniserregenden Wiederauflebens des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit. Was kann unter diesen Umständen jenes »Europa der Nationen« noch bedeuten, von dem de Gaulle einst sprach? Gibt es überhaupt einen »europäischen«, »transnationalen« Patriotismus? Gibt es auch »legitime« Fälle von Nationalismus? (Etwa den Nationalismus in der Ukraine, der den prorussischen Separatisten und den Besatzungstruppen einer fremden Macht entgegengesetzt wird?)

IV. Die Grenzen Europas: eine Bedrohung, eine »Grauzone« oder eine »Trading Zone«?

Viele Länder Mittel- und Osteuropas haben in den Jahren des Kalten Krieges an einem sogenannten »Exklusionssyndrom« gelitten. Sie fühlten sich »europäisch«, wurden aber nicht zum gemeinschaftlichen Tisch gebeten. Nach 1989, in der Zeit vor dem EU-Beitritt, ging man vom Exklusionssyndrom zu dem der »Nicht-Zugehörigkeit« über. Hier war – wenn auch nur zeitweilig – eine »Grauzone« entstanden. Es wurde auch die Meinung vertreten, dass gewisse europanahe Gebiete (z.B. die Ukraine und die Türkei) bereit sein müssten, den Status der »trading zones« zu akzeptieren. Es heißt, diese Länder würden per definitionem mehreren Kulturräumen gleichzeitig angehören, folglich wäre es vorzuziehen, wenn sie in dieser (uns) nützlichen Position der Vermittler auch blieben. Ihre Rolle sei es, zu versöhnen, jegliche Konflikte zu besänftigen, besonnene Debatten entstehen zu lassen, so dass man die kontraproduktive »Irritation« ihrer unberechenbaren östlichen Nachbarn vermeide. Dieser Auffassung muss man allerdings die Frage hinzufügen, inwieweit ein Land sein Dasein als »Korridor« fristen kann. Ist die Errichtung von »Pufferzonen« überhaupt eine Lösung? Wie kann und muss man in diesem neuen Zusammenhang das Verhältnis zwischen »Zentrum« und »Peripherie« umdeuten?
Ich möchte Sie nicht enttäuschen, muss Ihnen aber eingestehen, dass wir [beim Kolloquium in Bukarest] keine der erwähnten Fragen endgültig beantwortet haben, obwohl damals erstrangige Experten aus Deutschland, Bulgarien, Ungarn, Kroatien, aus der Ukraine, der Türkei und der Schweiz sowie aus Schweden zugegen waren und debattierten. Was brachte uns dann die Debatte, werden Sie sich fragen. Was bleibt, sind präziser formulierte Fragen, ein schärferes Bewusstsein für mögliche Gefahren und ein klareres Verständnis der Sachlage. Wir haben für unsere Überzeugung argumentiert und bekräftigt, dass kein Land willkürlich und missbräuchlich über das Schicksal eines anderen Landes entscheiden darf, dass die Solidarität der Werte wichtiger als jegliche tribalistische Gruppenzugehörigkeit ist; zugleich haben wir festgestellt, dass die rein rhetorischen Lösungen, das hohle Gerede über eine »glänzende Zukunft« und die Toleranz gegenüber Unerträglichem keine effizienten Waffen gegen all die Übel in dieser Welt sind. Schlussfolgernd haben wir nichts erfahren, was wir nicht schon wussten; wir haben aber besser begriffen, was noch in Erfahrung gebracht werden muss, um die so erzielten Erkenntnisse unseren Politikern – im Interesse aller Beteiligten – mitzuteilen. Falls sie uns danach fragen!