László Márton

Writer and Translator
Born 23/4/1959
Member since 2022

Friedrich-Gundolf-Preis

Lieber Herr Präsident,
meine Damen und Herren,

geboren und aufgewachsen bin ich in der Hauptstadt eines schönen und hoffnungslosen Landes, das seine Sünden und Fehlentscheidungenseit Jahrhunderten in verschiedenen Variationen wiederholt. Meine Kindheit verbrachte ich in einer trostlosen Epoche, kurz nach der Niederlage der Oktoberrevolution 1956. Während dieser Zeit herrschte im ganzen Land ein allgemeines Schweigen: Es wurden sowohl die Ereignisse der Revolution als auch die Traumata des Zweiten Weltkrieges verschwiegen. Vielleicht deshalb wollte ich schon als kleines Kind, als ich noch nicht des Schreibens kundig war, Geschichten erzählen, das heißt Schriftsteller werden. Diese Lebensplanung wurde erfolgreich durchgeführt: Seit den 1980er Jahren habe ich etwa vierzig Bücher veröffentlicht, Romane, Erzählungen, Dramen, Essays und ebensoviele Werke aus dem Deutschen übersetzt, meistens Klassiker, manchmal auch Zeitgenossen. Von den eigenen Werken werde ich ein anderes Mal erzählen, jetzt lieber davon, warum ich zugleich als Autor und Übersetzer tätig bin.
Als ich meine Studien anfing, hegte ich Hoffnung auf die allmähliche Demokratisierung der Politik und der Öffentlichkeit in meiner Heimat und überhaupt in Osteuropa. Der Jaruzelski-Putsch im Dezember 1981 hat alle diesbezüglichen Illusionen zerstört. Ich suchte und fand Zuflucht in der deutschen Barockdichtung, besonders in der Lyrik des Andreas Gryphius, der als Zeuge und Überlebender des Dreißigjährigen Krieges in seinen Gedichten und Dramen die ontologische Erschütterung des menschlichen Daseins vermittelte und in Luthers Tischreden – meine Auswahl und Übersetzung ist im Lutherjahr 1983 erschienen. Ich war erst 24 und wurde ins kalte Wasser geworfen, aber das eigentliche Problem war für mich nicht die Semantik des Frühneuhochdeutschen, in dem ich mich damals schon ziemlich gut auskannte, sondern die stilistische Imitation einer thematisch heterogenen, an manchen Stellen gehobenen, woanders vulgären Textgruppe.
Als ich Michael Kohlhaas für die von László Földényi herausgegebene ungarische Kleist-Gesamtausgabe übersetzte, entdeckte ich, daß ein tragfähiger Satz Zeitlupe und zugleich Zeitraffer sein kann. Ich habe mit den Konsequenzen dieser Entdeckung in meinem Roman Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz (1997, deutsch 1999) erfolgreich experimentiert. Andererseits entpuppte sich Kleist für den ungarischen Leser der 90er Jahre als verkappter postmoderner Erzähler, eigentlich als ungarischer Gegenwartsautor und als ein sehr subversiver Geist. Damals ist mir klar geworden, daß Übersetzung nicht nur einen Arbeitsvorgang und einen Text in der Zielsprache bedeutet, sie ist auch ein Kommunikationsprozeß, sowohl mit dem Leser als auch mit dem Autor – auch wenn der Letztere schon längst tot oder gar unbekannt ist. Unterredung mit einem toten Autor, in meinem Fall mit Kleist, meint keine mystische Begegnung, sondern eine möglichst genaue Rekonstruktion der Gedankengänge des Verfassers.
Der Dialog mit dem Autor war für mich besonders wichtig, als ich Faust übersetzte (beide Teile plus Urfaust und das alte Faustbuch aus dem XVI. Jahrhundert). Am Anfang dieser großen Arbeit mußte ich zwei wichtige Entscheidungen treffen. Erstens: Ist Goethes Faust ein Werk oder zwei verschiedene Werke? Ein Werk in zwei Teilen mit heterogenen poetischen Voraussetzungen und sehr unterschiedlicher Komposition, aber immerhin eine Einheit – oder zwei Werke mit den gleichen (oder doch nicht ganz gleichen) Hauptfiguren? Zweitens: Ist Faust eine Dichtung oder ein Bühnenwerk? Eine monumentale Dichtung, die zufälligerweise in Dialogform geschrieben wurde oder ein Drama mit großem dichterischem Potential?
Es gibt zahlreiche ältere ungarische Faust-Übersetzungen, aber die beiden Teile wurden jeweils von unterschiedlichen Nachdichtern separat übersetzt. (Zuletzt der erste Teil von Zoltán Jékely 1959, der zweite von László Kálnoky 1961.) Die Tatsache, daß die ungarische Version beider Teile von demselben Übersetzer ausgeführt wurde, ermöglicht erst die Annahme, daß es um Teile eines Werkes geht, oder genauer gesagt, daß die zwei Teile sich zusammenführen lassen. Andererseits übersetzte ich Faust ursprünglich für ein Budapester Theater (in Buchform ist die ungarische Version des Werkes erst nach der Premiere erschienen) und wollte die Bedürfnisse der Schauspieler berücksichtigen. Ich wollte einen leicht aussprechbaren Text herstellen, in dem das Ende des Satzes mit dem Versende zusammenfällt und der Reim die emotionalen Verhältnisse widerspiegelt.
Außerdem schrieb ich Briefe an den Regisseur Árpád Schilling über die einzelnen Szenen, habe ihn auf die Schwerpunkte aufmerksam gemacht und die komplizierten Stellen erläutert. Diesen Briefen entwuchs der Kommentarteil der späteren Buchfassung, ich mußte nur »Lieber Árpád« und »Herzliche Grüße« weglassen. Und in diesem Sinne nahm ich Stellung zur Gattungsfrage. Ich fasse Faust eindeutig als Bühnenwerk auf, und dadurch wurde die ungarische Version nicht minder poetisch.
Während meiner Laufbahn drang ich in immer frühere Schichten der deutschen Sprache und Literatur vor oder – es hängt vom Gesichtspunkt ab – zurück. Sebastian Brant ist kaum älter als Luther, aber seine Sprache wirkt wesentlich archaischer, sie ist halbwegs noch mittelhochdeutsch und außerdem stark mundartlich gefärbt. Als ich sein Hauptwerk Das Narrenschiff übersetzte, habe ich die Erfahrung gemacht, daß dort, wo das Verstehen aufhört, das Enträtseln anfängt. Während ich einzelne Wörter und Wendungen nicht sofort und nur mit Hilfe des mittelhochdeutschen Wörterbuches verstand, war mir in jedem Kapitel klar, woran der Autor eigentlich dachte, und diese inhaltliche Sicherheit half mir auch sprachlich weiter und brachte mich dem klassischen Mittelhochdeutschen näher. Brant mit seiner Narrensatire, in der er etwa hundertzwanzig »Narrheiten« verspottete, war ein engstirniger Geist. Aber gerade deshalb konnte er, wozu die intelligenteren Zeitgenossen nicht fähig waren, in den »Narrheiten« die widersprüchlichen Charakterzüge der modernen Persönlichkeit erfassen und den Zusammenbruch des traditionellen mittelalterlichen Weltbildes vorausahnen.
Als ich die Gedichte von Walther von der Vogelweide übersetzte, mußte ich zugleich zwei Aufgaben lösen. Erstens mußte ich das Lebenswerk strukturieren und zweitens den Lebensweg rekonstruieren oder vielmehr konstruieren. Dabei ist mir klar geworden, daß die Handhabung des Œuvres eines mittelalterlichen Autors, mit besonderer Rücksicht auf die autofiktionalen Äußerungen, nicht nur übersetzerische, sondern auch schriftstellerische Tätigkeit ist. Wenn ich das Lied Maniger fraget waz ich klage in Walthers Jugendlyrik einstufe, dann nehme ich an, daß er schon in seiner Jugend als Dichter auftrat, obwohl man davon nichts Sicheres weiß. Wenn ich dagegen das Gedicht Fro werlt ir sult dem wirte sagen zu seiner Altersdichtung zähle, dann setze ich voraus, daß er ein hohes Alter erreichte, obwohl eine glaubwürdige Walther-Biographie nicht zur Verfügung steht. Und in erster Linie mußte ich als Übersetzer die Frage stellen: Was für eine Persönlichkeit versteckt sich in seinen Liedern und Sprüchen? Während ich diese übersetzte, verhielt sich der Dichter zu mir wie ein Romanheld gegenüber dem Autor des Romans.
Als ich Gottfried von Straßburgs Tristan und Isolde übersetzte, entdeckte ich in diesem großartigen Werk eine wichtige Vorstufe des modernen psychologischen Romans, ein mittelalterliches Pendant zu Madame Bovary und Anna Karenina. Deshalb folgte ich der philologisch nicht begründeten aber durchaus leserfreundlichen Lösung von Reinhold Bechstein, der das Werk in dreißig Kapitel eingeteilt hat. Dadurch wird die Komposition leichter durchschaubar als in einer ungegliederten Textmasse, und das ganze Werk entfernt sich um einen Schritt vom Epos und nähert sich der späteren Gattung Roman an. Die essayartigen Meditationen des Autors sind Höhepunkte der Werkstruktur, sie sind, während sie die Handlung zeitweilig anhalten und erstaunlich weite denkerische Horizonte aufzeigen, wie Aussichtstürme für den Leser. Bei Gottfried konnte ich mich besonders stark davon überzeugen, daß ein alter Autor des Mittelalters, sofern sein Werk die Übersetzung lohnt, zugleich ein Gegenwartsautor ist. Die Übersetzung als Dialog zwischen Altem und Neuem kann aus einem alten Text, indem der Übersetzer alte juristische und militärische Ausdrücke oder nicht mehr benutzte Maßeinheiten bewahrt und, wo es nötig ist, erläutert, einen erstaunlich modernen machen.
Als ich Das Nibelungenlied übersetzte, wurde ich auf die einfache, aber sehr tragfähige Grundidee des unbekannten Autors aufmerksam. Durch die zwei Ströme, die die Schauplätze des Werkes sind, den Rhein und die Donau, entstehen zwei Achsen der Handlung: Eine nord-südliche, »senkrechte« für die erste und eine west-östliche, »waagrechte« für die zweite Hälfte. Als Siegfried im ersten Teil vom nördlichen Xanten im südlichen Worms ankommt, unternimmt er eine Reise von der Mythologie (mit Requisiten wie Drache und Tarnkappe) zur Historie (mit Völkerwanderungskrieg gegen die Sachsen und Dänen). Siegfried, nachdem er die Mythen verlassen hat, will in die Historie integriert werden: Deshalb heiratet er die »historische« Königstochter Kriemhild, obwohl die »mythologische« Brünhild ihm angemessen wäre. Dadurch verfällt er in eine tragische Schuld, die er mit dem Leben büßen muß. Die Donaureise der Burgunder nach »Ungerlant«, d. h. Ungarn (so nennt der Autor manchmal das Reich des Hunnenkönigs Etzel), zieht eine Konfrontation zwischen den Kräften von Zentraleuropa und denen der östlichen Randgebiete nach sich. Der unbekannte Autor beschreibt einen katastrophalen Zusammenprall diverser Zivilisationen, dessen Grund in erster Linie nicht Kriemhilds Haß und Rachedurst ist, sondern die gegenseitige Verständnislosigkeit.
Und gerade das erleben wir schon wieder, die systematische und globale Verständnislosigkeit, in Gestalt der verheerenden Krisen des letzten Jahrzehntes und der infamen Aggression gegen die Ukraine.
Deshalb rede ich hier und jetzt nicht nur als Autor und Übersetzer, sondern auch als Staatsbürger, und zwar als Bürger eines Staates, dessen Gesellschaft, nach Jahrzehnten politischer Repression, im Jahr 1989 Freiheit und Demokratie so gut wie geschenkt bekommen hatte. Nach dreieinhalb Jahrzehnten muß ich feststellen, daß die Mehrheit meiner Mitbürger diese Möglichkeit nicht nutzen konnte; in meiner Heimat sehnt man sich nach Sicherheit und Wohlstand, indem der Bürger vom Staat versorgt wird, nicht aber nach Freiheit, die auch Verantwortung bedeutet. Dadurch und durch die Vorgehensweisen einer bisher viermal legitim gewählten Regierung, hat Ungarn den einstigen guten Ruf und die Sympathie allmählich eingebüßt, es wird, wie im Nibelungenlied das »Ungerlant« der Hunnen, immer mehr isoliert. Unter diesen Umständen ist es besonders wichtig zu zeigen, daß es nach wie vor auch ein anderes Ungarn gibt, ein Land des Geistes, des Fortschritts, der Offenheit und der innovativen Ideen. Ich möchte diese andere Seite meines Landes vertreten, das Verständnis zwischen der deutschen und ungarischen Kultur vertiefen und den Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart verstärken.
Und schließlich noch ein Satz. Ich bin stolz auf den Friedrich-Gundolf-Preis, den ich vor sechs Jahren erhielt, und es freut mich, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu sein.