Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Luca Giuliani

Archaeologist
Born 18/4/1950

... der mit einer eleganten Wissenschaftssprache, die Klarheit des Ausdrucks und Scharfsinnigkeit des Arguments vereint, die Klassische Archäologie wieder zu einem inspirierenden Gesprächspartner der Kulturwissenschaften macht.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Heinrich Detering, Peter Hamm, Ilma Rakusa, Beisitzer Peter Eisenberg, Wilhelm Genazino, Joachim Kalka, Per Øhrgaard, Gustav Seibt, Werner Spies

Pyrotechniker vs. Linsenschleifer

Sehr verehrter Herr Präsident, lieber Oliver Primavesi, verehrte Mitglieder dieser Akademie, meine Damen und Herren,

der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung danke ich für einen Preis, den ich als den schönsten empfinde, der einem Wissenschaftler deutscher Zunge zugesprochen werden kann. Meine Freude ist groß – und gliedert sich säuberlich in drei Teilfreuden.


Die erste ergibt sich aus meinem Lebenslauf. Meine Mutter, in Berlin geboren, hatte es kurz nach Anfang des Krieges nach Italien verschlagen, wo sie meinen Vater kennenlernte. Als ich zehn Jahre später auf die Welt kam, war meine erste Sprache Italienisch. Als zweite Sprache kam, etwas später, Deutsch hinzu, allerdings nur auf der mündlichen Ebene. Erst mit 15, in einem Internat im Berner Oberland, habe ich begonnen, auch Deutsch zu schreiben und – vor allem – zu lesen. Da mir Worte und Wendungen vom Sprechen her vertraut waren, war das Lesen wunderbar mühelos. Ich erinnere mich heute noch lebhaft an die Mischung aus Euphorie und Schwindelgefühl, mit der ich mich über die (sehr überschaubaren) Bestände der Internatsbibliothek hermachte. Die Schule wurde mir zum Zauberberg: Hier lernte ich ausgiebig das kennen, was Hans Castorp als die »horizontale Lebensweise« bezeichnet; so extensiv wie damals bin ich nie wieder zum Lesen gekommen. Es gab in der Schule einen charismatischen Deutschlehrer; unvergesslich ist mir ein Kurs, in dem er mit uns Schülern Das Unbehagen in der Kultur las: nicht ausgewählte Passagen, sondern das Ganze; es ist ja ein schmales Buch. Es war das erste Mal, das ich wissenschaftlicher Prosa begegnete, und ich machte dabei zwei Entdeckungen. Zum Einen stellte ich fest, dass der Text (sehr im Gegensatz zu meiner Erwartung) keineswegs schwer zu verstehen war; man las und las und hatte das Gefühl, den Gedankengang deutlich vor Augen zu haben. Aber (und das war die andere Entdeckung) wenn man am Ende noch einmal von vorne anfing, etwa nach zentralen Begriffen suchte, die Stellen mit einem spitzen Bleistift markierte und untereinander verglich: Dann traten plötzlich Muster zu Tage, die man beim ersten Lesen gar nicht bemerkt hatte. Der lineare Gedankenfluss verwandelte sich in ein mehrdimensional vernetztes, komplexes Gebilde, worin man sich auch lustvoll verirren konnte. Ohne diese Erfahrung im Umgang mit einem wissenschaftlichen Text wäre ich später wohl niemals auf den Gedanken gekommen, Wissenschaft als Beruf zu wählen. Im Berner Oberland hat damals für mich ein langer Akkulturationsprozess begonnen, von dem ich sagen möchte, dass er heute hier in Darmstadt einen glücklichen Abschluss findet.

Die zweite Freude ist auf mein Fach bezogen. Zu einer Zeit, in der man sich an einer Universität immatrikulieren konnte, ohne auch nur im Geringsten schon einen bestimmten Studiengang im Auge zu haben, bin ich in mein erstes Semester mit der einzigen Gewissheit hineingestolpert, dass ich weder Arzt noch Theologe werden wollte. In die Klassische Archäologie bin ich hineingeraten ein wenig wie ein Flaneur in eine versteckte Seitengasse: Es war eine gute Portion Zufall mit im Spiel, aber mit diesem Zufall bin ich im Lauf der Zeit durchaus glücklich geworden. Das Fach bot und bietet Rahmenbedingungen, denen ich viel zu verdanken habe.

Da ist einmal der Umstand, dass die Klassische Archäologie weder formalisierte Gedankengänge noch ein ausgeprägtes technisches Vokabular aufweist. Ähnliches gilt für Geschichte, Kunst- und Literaturwissenschaft – und für manch anderes Fach. Daraus folgt, dass man zum Zweck wissenschaftlicher Kommunikation auf die Umgangssprache zurückgreifen kann; das ist keineswegs ein Notbehelf, denn diese Sprache ist ein unerschöpflich reiches, elastisches und präzises Instrument, zur Darstellung von Sachverhalten ebenso geeignet wie zur Überwindung von Verständigungsschranken. Philosophen oder Juristen, die mitunter auf eine ausgefeilte Fachsprache angewiesen sind, haben es hier ungleich schwerer: von den Naturwissenschaften ganz zu schweigen. In meinem Fach bin ich bis heute keinem Problem begegnet, das sich nicht in der Umgangssprache auf den Punkt bringen ließe, ohne auf Komplexität oder Differenzierungen zu verzichten: Eine notwendige Voraussetzung besteht freilich darin, dass man erst einmal Klarheit für sich selbst schafft; erst dann lässt sich die gewonnene Klarheit auch anderen vermitteln. Aus der Möglichkeit der Allgemeinverständlichkeit resultiert m.E. zugleich eine besondere Verpflichtung zur Transparenz: eine Verpflichtung, die mir ebenso ästhetischer wie politisch-moralischer Natur zu sein scheint.

Entscheidende Impulse sind dem Fach (und mir ganz persönlich) immer wieder daraus erwachsen, dass man es mit konkreten Artefakten zu tun hat, die zuerst einmal beschrieben werden wollen. Das schien mir immer alles andere als eine triviale Operation. Einen Gegenstand beschreiben setzt zunächst eine eigene Qualität des Hinschauens voraus: einen behutsamen, tastenden Blick, der einen Schwebezustand aushält und nicht allzu rasch nach vorgegebenen Zielen strebt. Zum Schauen kommt dann das Sprechen hinzu, so dass beide miteinander ein Zweigespann bilden. Dabei hat das Sprechen nicht nur die Aufgabe, Gesehenes zu protokollieren: Es stellt Fragen, fokussiert die Aufmerksamkeit und macht manches überhaupt erst sichtbar. So ist jede Beschreibung, auf ihren Gegenstand bezogen, immer auch schon Analyse und Deutung. Aber der Bezug zum Gegenstand ist nur die eine Seite: Die Beschreibung zielt auf der anderen Seite immer schon auf einen Adressaten, den sie – je nach Temperament – überzeugen, überraschen, überwältigen oder verführen möchte. Freilich ist ihr Spielraum keineswegs unbegrenzt: Sie bleibt auf die Zustimmung des Adressaten angewiesen und unterwirft sich damit der Kontrolle durch das, was dieser zu sehen bereit ist.

Dieser deskriptive, analytisch-deutende Umgang mit Artefakten des klassischen Altertums hat in keinem anderen Kulturhorizont eine solche Tradition wie gerade in Deutschland. Wegweisend hat bekanntlich Winckelmann gewirkt; er ist bis heute wohl der bedeutendste Vertreter meines Faches geblieben (auch wenn er von Fachkollegen selten mehr gelesen wird). 1755 schaffte Winckelmann den lang ersehnten Absprung von Dresden nach Rom, wo er endlich Gelegenheit zur nahsichtigen, beliebig lange fortgesetzten Betrachtung antiker Skulpturen hatte; daraus ergaben sich ihm ganz neue Möglichkeiten des beschreibenden Sehens und der sehenden Beschreibung. Von Winckelmann gelernt hat dann eine ganze Generation, und diese Tradition hat fortgewirkt. Im späteren 19. Jahrhundert findet man etwa bei Heinrich Brunn Beschreibungen antiker Skulpturen, die an Reichtum und Differenziertheit, an Kraft und Anschaulichkeit wohl in keinem anderen Kulturhorizont ihresgleichen finden. Aber selbst für die vielfältigste, nuancierteste dieser Beschreibungen gilt, dass sie ohne spezielle Terminologie auskommt und somit auch für Laien (wenn diese sich die Zeit dafür nehmen) verständlich und genießbar bleibt. Dieses allgemein verständliche archäologische Beschreibungsidiom hat nun umgekehrt auch wieder auf die Umgangssprache zurückgewirkt: In den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist z.B. die Unterscheidung von Stand- und Spielbein (die es in anderen Sprachen so nicht gibt: was die Analyse klassischer Statuen auf Italienisch, Französisch oder Englisch zu einem vergleichsweise beschwerlichen Unterfangen werden lässt); und ohne diese Unterscheidung wüsste ich gar nicht, wie ich jetzt vor Ihnen stehen sollte. Es mag mit meiner nachträglichen Akkulturation zusammenhängen, wenn mir dieses formanalytische Vermögen der deutschen Sprache als eine ganz besondere Errungenschaft vorkommt, als das Ergebnis einer langen, über viele Generationen hinweg fortgesetzten Arbeit an den Phänomenen, deren Resultat man pflegen und hegen sollte.

Bilder sind Artefakte besonderer Art. Niemand von uns glaubt heute an Zauber und Bildanimismus, wir halten uns für aufgeklärte Betrachter. Aber ich empfehle einen Selbstversuch. Nehmen Sie das Passbild eines geliebten Menschen: Natürlich wissen Sie, dass das Foto nichts anderes ist als Papier mit einer dünnen Pigmentschicht. Aber versuchen Sie mal, mit einer Schere die Augen aus dem Gesicht herauszuschneiden, und beobachten Sie dabei Ihre eigenen Reaktionen. Wir sind nun einmal so programmiert, dass wir ein Bild kaum vollständig von dem abkoppeln können, was es darstellt; und wenn das Dargestellte ein Lebewesen ist, dann schreiben wir auch dem Bild einen Mehrwert an Lebendigkeit zu: Dieser Mehrwert scheint unausrottbar zu sein, und genau darauf beruht seit eh und je die Wirkungsmacht von Bildern. Deshalb sollten wir im Umgang mit ihnen eine gewisse Vorsicht walten lassen. Die größte Gefahr besteht immer wieder darin, dass wir von Bildern einen direkten, unverfälschten, vertrauenswürdigen Zugang zur Wirklichkeit erwarten – doch genau den liefern sie niemals. Jedes Bild ist und bleibt ein Produkt menschlicher Kunstfertigkeit, mit Sinn und Absichten verbunden, durch Interessenkonstellationen geprägt, nach künstlichen Regeln und Normen gefertigt. Wenn wir den Konstruktcharakter und die (unvermeidliche) Parteilichkeit von Bildern vernachlässigen, dann unterwerfen wir uns ihnen, machen uns zu ihrem Objekt statt sie zu unserem. Das ist der Wissenschaft nicht förderlich – aber auch dem Zuschauer der Tagesschau nicht zu empfehlen.

Nun aber noch einmal zum Verhältnis von Bildern und Texten und damit zu dem Thema, das für mich in den letzten Jahren die zentrale Rolle gespielt hat. Was verbindet die beiden Medien, Bild und Sprache, und worin unterscheiden sie sich in ihrem Zugriff auf die Welt? Auch mit diesem Fragenkomplex bewege ich mich in einem Horizont, der in der deutschen Aufklärung seine entscheidende Prägung erfahren hat. Bis heute maßgeblich geblieben ist Lessings Laokoon von 1766. Lessings Parteinahme für die Poesie und gegen die Malerei ist offenkundig – bis hin zu Äußerlichkeiten. Zwar steht die Interpretation der antiken Laokoongruppe im Zentrum: Aber Lessing hat bewusst darauf verzichtet, der gedruckten Ausgabe einen Kupferstich beizulegen: Das schien ihm überflüssig. Mehr noch: Als er etwa zehn Jahre später drei Wochen in Rom verbrachte – es war der einzige Rom-Aufenthalt seines Lebens –, scheint er keinerlei Anstalten getroffen zu haben, den vatikanischen Belvedere-Hof und den dort aufbewahrten Laokoon aufzusuchen, um das Stück, über das er so erfolgreich geschrieben hatte, auch selbst in Augenschein zu nehmen. Für bildende Kunst hatte Lessing keine Neugier und kein Gespür. Wenn es einem (wie mir) um die Bilder geht, tut man gut daran, Lessings Abhandlung gegen den Strich zu lesen; aber lesen sollte man sie. Bis heute gibt es zum Fragenkomplex von Text und Bild wohl keinen Beitrag, der diesem an argumentativer Energie und blitzender Gedankenschärfe gleichkäme. Gerade bei Lessing habe ich das Gefühl, als der sprichwörtliche Zwerg auf den Schultern eines Riesen zu stehen. Das ist immer auch eine prekäre Lage: Man darf in dieser Höhe auf keinen Fall das Gleichgewicht verlieren. Die Anerkennung durch die Akademie für Sprache und Dichtung gibt mir einen gewissen Halt – und freut mich deshalb besonders.

Der dritte und letzte Teil meiner Freude hängt mit der Frage zusammen, woran man einen wissenschaftlichen Text misst und was man von ihm verlangt. Es gibt da, wie mir scheint, zwei entgegengesetzte Ideale: den Text als Feuerwerk und den Text als optische Linse. Beim Feuerwerk lässt der zischende Flug in die Höhe den Betrachter den Kopf in den Nacken werfen und zieht den Blick dorthin, wo aus bewegter Mitte heraus die Farben explodieren, die Parabelbahnen sich auseinanderfächern, in die Breite gehen und schließlich verglimmen. Bei der Linse hingegen ist alles hell und still; der Betrachter beugt sich über sie und schärft in geduldiger Konzentration seinen Blick, der indessen durch die Linse hindurchgeht, als ob sie Luft wäre; die Aufmerksamkeit gilt nicht ihr, sondern dem, was sie, selbst unsichtbar, in anschaulicher Vergrößerung vorführt.

Wenn ich nun, mit diesem Parameter vor Augen, die ehrfurchtgebietende Reihe der Sigmund-Freud-Preisträgerinnen und -Preisträger Revue passieren lasse, dann sehe ich fast ausschließlich Linsenschleifer; ganz vereinzelt steht ein virtuoser Pyrotechniker, etwas weiter allenfalls noch ein zweiter. Zum langsamen, geduldigen Handwerk des Linsenschleifens möchte auch ich mich gerne bekennen. Und doch stehe ich vor einem Paradoxon. Makellos ist die Linse dann und nur dann, wenn sie völlig transparent und insofern gar nicht mehr zu sehen ist. Hätte das, was ich geschrieben habe, dem Linsenideal wirklich entsprochen, dann wäre keine Jury der Welt, bei allem Scharfblick und aller Sprachempfindlichkeit, je darauf aufmerksam geworden. Gerade die heutige Auszeichnung legt den Verdacht nahe, dass ich der selbstgestellten Aufgabe eben nicht gerecht geworden bin. Ich habe Linsen hergestellt, in denen trotz allem wohl noch ein Rest an farbigen Funken auszumachen ist, ein Quantum Schwefel und Rauch. So birgt selbst der schönste aller Preise den leisen Hauch eines Scheiterns in sich: was indessen meiner Freude und Dankbarkeit heute keinen Abbruch tut.