Cécile Wajsbrot
Im Auge des Zyklons
1
Es gibt eine Kartenserie, die Verschiebungen der geographischen Mitte dessen zeigt, was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, dann die Europäische Gemeinschaft war und jetzt die Europäische Union ist. Die Mitte wandert von Dorf zu Dorf; es sind unbekannte Dörfer mit bezaubernden Namen, mal französisch, mal belgisch oder deutsch: Frampas, Fougerolles, Saint-Clément, Viroinval, Gelnhausen, Westerngrund und, seit dem Brexit, Gadheim in Bayern. Diese Mitte verschiebt sich ein wenig weiter nach Osten, nach Norden oder Süden, aber bis heute bleibt sie in einem der Gründungsländer, dort, wo ursprünglich Westeuropa ist.
Unsere Wahrnehmung von Europa, vom europäischen Raum ist allerdings keineswegs geographisch. Sie ist intuitiv und historisch zugleich und beruht auf doppelter Erfahrung durch individuelles und kollektives Sein. Zwar berechnen Algorithmen genauestens, auf welche Weise bedeutende Ereignisse – etwa die deutsche Wiedervereinigung oder der schrittweise Beitritt der osteuropäischen Länder zur Europäischen Union – auf die Festlegung einer geographischen Mitte einwirken. Doch berechnen, wie diese Ereignisse die fragilen Gleichgewichte erschüttern, auf die subjektive Wahrnehmung einer Mitte einwirken und die Äquivalenz zwischen »gefühlter« Mitte und tatsächlichem Mittelpunkt des Interesses austarieren – analog zum Unterschied zwischen gefühlter und realer Temperatur neuerdings in der Meteorologie –, das können Algorithmen nicht!
2
Von November 2022 bis Anfang Mai 2023 zeigt das Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid die Ausstellung In the Eye of the Storm: Modernism in Ukraine, 1900–1930s. Nahezu 70 Gemälde stammen aus dem Ukrainischen Nationalmuseum, ein kleiner Teil aus den eigenen Beständen des Madrider Museums. Die Namen der Maler waren uns, zumindest in Frankreich, bisher unbekannt: etwa Oleksandr Bohomazow und Wiktor Palmow, oder auch viel bekanntere wie Kasimir Malewitsch und Sonia Delaunay, beide in Kyjiw geboren. Wenngleich ihr Werdegang im Wesentlichen außerhalb der Ukraine verlief, so sind sie nun gewissermaßen ihrem Herkunftsland zurückgegeben.
Seit dem schrecklichen Krieg, den Putin gegen die Ukraine angezettelt hat, konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit wiederum auf eine Region, für die sich im westlichen Europa, wo ja die geographische Mitte der Union liegt, wenige interessierten. Statt der Namen jener Maler hören oder sagen wir Städtenamen, Butscha, Mariupol, Cherson, Saporischschja, verbinden sie mit den von der russischen Armee begangenen Massakern. Namen, die nun leider in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und auf die Titelseiten der deutschen, französischen, spanischen oder polnischen Zeitungen rücken und in diesem Europa, dem es so schwerfällt, sich zu einigen, zumindest eine Einheit verwirklichen – die geeinte Aufmerksamkeit.
Die Ausstellung von Madrid dokumentiert eine Epoche von Kriegen und Revolutionen, Massakern, Unterdrückung und Hungersnot. Doch diese grausamen Szenen sieht man nicht auf den Gemälden. Vor allem sind sie Forschungen über Abstraktion in Farbe und Form, die auf besondere Weise mit den grausamen Ereignissen, die sich parallel abspielen, in Verbindung stehen. Kunst ist vor allem eine Suche nach Formen, um zu übersetzen, was geschieht, gewiss, aber in eine andere Sprache, in eine Sprache, die nicht nachbuchstabiert.
Unter dem Auge des Zyklons haben zwei Lastwagen die Gemälde aus Kyjiw geholt, auch mit der Mission, sie vor den russischen Cruise-Missiles in Sicherheit zu bringen, sie zu retten. Zehn Stunden Wartezeit an der polnisch-ukrainischen Grenze, verschiedene Botschafter setzten sich ein, endlich freie Fahrt; aber der Weg nach Madrid war noch lang.
Im Auge des Zyklons: Ist es das Thema der Ausstellung oder sind es die Bedingungen, unter denen diese vorbereitet oder vielmehr improvisiert wurde? Seit sechs Jahren wollte Kurator Konstantin Akinscha eine Ausstellung zur ukrainischen Kunst machen. Aber die hatte niemanden interessiert. Sollte also der Krieg ein schrecklicher Kunstagent sein? Denn die Namen rufen andere Namen herbei und plötzlich verändert sich etwas, die Geographie verschiebt sich, die Aufmerksamkeit bleibt haften, bevor sie sich wieder abwendet …
3
Das Auge des Zyklons, ursprünglich eine windstille Zone in der Mitte von Wirbelwinden bezeichnend, hat sich ins Gegenteil gewendet, wurde Synonym für den Sturm selbst. Die Mitte, die das Ganze meint, so lautet die Definition einer Stilfigur, die Synekdoche – ein Segel für ein Schiff und die Ukraine für Europa. Die Ukraine, im Auge des Zyklons, steht nun für jenes Europa, für das die Europäische Union selbst kaum noch steht, dort, wo Ideen verteidigt werden, an die wir uns nur schwer erinnern oder die für viele zu leeren Worthülsen geworden sind, zu Wörtern, die nichts mehr bezeichnen. Wie Demokratie. Wie Freiheit. Dort uns so fern und nun so nahe gerückt, dort, wo gestorben wird, damit die Leere sich wieder füllt, damit das, was wir hier ausriefen, ohne daran zu glauben, wieder einen Sinn bekommt.
Von Madrid werden die Kyjiwer Bilder nach Köln wandern, danach vielleicht anderswohin. Immigranten, Emigranten, wie manche von denen, die früher ins Museum gingen, um diese Bilder anzuschauen, in Kyjiw, zu Hause, vor dem Krieg ... Jetzt irren sie durch Europa auf der Suche nach einem Hafen, nach einem Aufnahmeort, einem Halt in ihrem Exil. Denn im Grunde ist ja die Mitte, ist das Zentrum immer in Bewegung und die Zukunft immer ungewiss.
März 2023
Übersetzung aus dem Französischen von Esther von der Osten