Peter von Matt

Literaturwissenschaftler
Geboren 20.5.1937
Mitglied seit 1992

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Ein Satz von Lichtenberg, um 1790:

»Bei den Sonnuhren steht der Schatten still und die Uhren drehen sich.«

Ich lese das, und für einen Moment verwandelt sich mir das imaginäre Bild der Sonnenuhr in eine Absurdität. An einer Hauswand beginnt ein Fresko zu kreisen. Gleichzeitig setzt die Reflexion ein. Weil die Sonne steht und nur die Erde sich dreht, kann auch kein Schatten sich bewegen. In einer Sekunde habe ich die kopernikanische Wende nochmals vollzogen und etwas von ihrem Schock gespürt.
Der Satz erteilt mir eine scharfe Lektion. Ich muß zur Kenntnis nehmen, daß ich 500 Jahre nach Kopernikus noch immer nicht fähig bin, mein Wissen über Himmel und Erde zu meiner gelebten Erfahrung zu machen. Mit Leib und Seele halte ich am Sonnenuntergang fest. Und wenn ich ein Dichter wäre, würde ich diesen täglichen Atmosphärenschwindel genau so metaphernselig ausbeuten wie alle meine Kolleginnen und Kollegen.
Ist das harmlos? Soll man es der Literatur ohne weiteres nachsehen, daß sie mit Erfahrungen operiert, die auf falschen Voraussetzungen beruhen? Wäre es nicht ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die Einbildungskraft mit dem Wissen wieder gleichzieht?
Ein Dialogstück von Karl Kraus, um 1918:

»DER OPTIMIST: Die Entwicklung der Waffen kann doch hinter den technischen Errungenschaften der Neuzeit unmöglich zurückbleiben.
DER NÖRGLER: Nein, aber die Phantasie der Neuzeit ist hinter den technischen Errungenschaften der Menschheit zurückgeblieben.«

Was die Technik weltweit anrichtet, im Krieg der Menschen gegen Menschen und im Krieg der Menschen gegen die Natur, geschieht also ebenfalls im Schutz der Tatsache, daß unsere Phantasie nicht mehr mithält. Wir erleben nicht, was wir wissen – genau wie beim Sonnenuntergang.
Und die Literatur? Soll sie die alten Erlebnisformen in die elektronische Zivilisation herüberretten, oder soll sie, umgekehrt, die elektronische Zivilisation der Phantasie zugänglich machen?

Botho Strauß, 1992:

»Es zeigt sich, daß es keine ausgeträumten großen Gedanken geben kann. Selbst das geozentrische Weltbild verbleibt im Herzen unseres Gedächtnisses [...]. Längst widerlegte Weltanschauungen bilden im Bewußtsein eine ideelle Rücklage und werden in der Sehnsucht des Komplexen nach seiner Andersheit wieder aktiv.«

Das scheint nun doch für den Sonnenuntergang zu sprechen. Es widerlegt allerdings Karl Kraus nicht.
Meine Damen und Herren, ich soll mich Ihnen vorstellen. Ich bin Literaturwissenschaftler an der Universität Zürich; mein Werdegang ist landläufig; ich interessiere mich für Fragen dieser Art.

(Zitatnachweis:
Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft J, Ausg. Promies (München 1971), Bd. II, S. 289.
Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. I. Akt, 29. Szene.
Botho Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie. München 1992, S. 69.)