Schriftstellerin und Übersetzerin
Geboren 13.11.1964
Mitglied seit 2018
»Wer ich bin?« ist der erste Satz meines jüngsten Romans. Die Frage
ist nicht an mich gerichtet, sondern an einen Erzähler, den ich vorübergehend
beherbergte. Wie vermutlich die meisten von uns weiß er keine
eindeutige Antwort darauf. Er ist sich selbst ein Rätsel. Allenfalls kann
er mit einigen Indizien weiterhelfen, die den Fragenden auf die richtige
Spur bringen sollen. Was sich anböte, um einer Antwort näher zu kommen,
wäre am ehesten noch das Ausschlussverfahren: wer ich nicht bin.
Wie aber innerhalb von fünf Minuten die Liste dessen erstellen, was
man alles nicht ist?
Wer ich bin, gewissermaßen im luftleeren Raum, ist nicht in Erfahrung
zu bringen. Wer ich wie, wo und wann bin, schon eher. In Frankreich
zum Beispiel, wo ich seit fünfunddreißig Jahren lebe, bin ich deutscher,
als ich es in Deutschland je war und hätte sein können. Wenn
ich in die oberhessische Kleinstadt zurückkehre, in der ich zuletzt zur
Schule ging, bin ich eine exotische Pariserin. Im deutschen Feuilleton
bin ich eine bis an die Zähne mit Deleuze, Derrida und Foucault bewaffnete
Postmodernistin. In Polen bin ich gerne Französin. Im Walter-Benjamin-Archiv in Berlin bin ich die Urenkelin von Florens Christian
Rang. Für Pierre Michon bin ich seine Übersetzerin. In Grignan in
der Drôme bin ich die Schwiegertochter von Monsieur Jaccottet.
Wer bin ich also? Das Französische stellt mir die Frage wirksamer, es
piekst mit Nadeln, bis ich mit der Sprache herausrücke: Qui suiiiis-je?
Wer hätte von einem derart zivilisierten Volk so viel Penetranz erwartet
? Wenn ich mir die Frage auf Französisch stelle, wirken wir beide,
sie und ich, noch in derselben Sekunde lächerlich. Und in der Sekunde
darauf, in einer nicht aufzuhaltenden Kettenreaktion – selbstironisch.
Qui suis-je? Wer so fragt, verspottet sich. Er verspottet sich selbst und
die Philosophie gleich mit, ob er es will oder nicht. In »Wer bin ich?«
hingegen liegt, scheint mir, keine Spur von Hohn, es ist und bleibt eine
der ernstesten der unbeantwortbaren Fragen.
In diesem Spannungsfeld zwischen zwei Sprachen, das mitunter
auch eine Art Streckbank darstellt, lebe ich. Nicht, dass ich diesen Zustand angestrebt hätte. Es ist kein sonderlich bequemer. Ich schaue auf
meine Kindheit und Jugend zurück als auf die Jahre, in denen ich noch
ein Zuhause hatte; in denen ich daheim war in einer Sprache und in einem
Land. Warum habe ich mir mit aller Kraft das Französische aneignen
wollen? Warum hat es mir mit gerade einmal achtzehn Jahren, fast
noch als Kind, nicht ausgereicht, diese fremde Sprache zu lernen, mich
gut in ihr verständigen zu können; warum habe ich ganz in ihr aufgehen,
mit ihr eins werden wollen? Es scheint, als wäre ich auf der Flucht
gewesen, aber wovor? Doch nicht vor dem, was üblicherweise als die
»deutsche Vergangenheit« bezeichnet wird? Habe ich mit der anderen,
für mich unbefleckten Sprache einen Zufluchtsort gewählt? Es käme
mir unredlich vor, das heute behaupten zu wollen, denn es ist mir damals
nicht in den Sinn gekommen. Sicher ist aber: Ich wollte nicht als
Deutsche erkannt werden, wollte in der anderen Sprache und im Franzosentum
untertauchen. Ich fragte mich nicht, warum.
Es war in diesen frühen Jahren in Frankreich, als hätte ich – dank einer
Begabung vielleicht oder eines besonders starken Willens? – Gelegenheit
bekommen, noch einmal, aber diesmal im Erwachsenenalter
und also bei vollem Bewusstsein, eine Muttersprache zu erlernen: von
der rein sinnlichen Begegnung, dem Lauschen einer Musik, bis zum
Verschmelzen mit ihr. Da ich kein Kleinkind mehr war in jenen Jahren,
verlief diese Verinnerlichung einer Sprache keineswegs von selbst. Wie
ein Medizinstudent lernte ich das Skelett, die Blut- und Nervenbahnen
eines Gebildes kennen, das ich letztlich selbst war, oder zu dem ich allmählich
wurde. Ins Deutsche kehrte ich als fremd Gewordene zurück.
Seither blicke ich von außen darauf, wie auf meine fremde Muttersprache
auch.