Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Johannes Fried

Historiker
Geboren 23.5.1942

... vorgetragen in einer Sprache, die frei ist vom Wissenschaftsjargon und deren Originalität, Bilderreichtum und Eleganz ihn als großen Erzähler ausweist.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Peter Hamm, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Beisitzer Friedrich Christian Delius, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt, Gustav Seibt, Werner Spies

Laudatio von Horst Fuhrmann
Historiker, geboren 1926

Phantasie als Gestaltungskraft

Das Fach freut sich. Der Mittelalter-Historiker Johannes Fried erhält den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, wobei zugleich ein Dank an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ausgesprochen sei, daß dieser Preis erhalten geblieben ist, neben den anderen hier verliehenen Preisen, denn manche mit gleicher Intention gestiftete Auszeichnung, wie der bayerische Karl-Vossler-Preis für wissenschaftliches Schrifttum, ist schnöde eingestellt: aus Geldmangel.
Dankbar, speziell innerhalb der Zunft der Historiker, sind die Mediävisten, weil sie – wie man konstatierte (Karl-Heinz Bohrer) – mit dem Phänomen zu kämpfen haben, daß die Deutschen zwar zu Hunderttausenden in historische Ausstellungen über das Mittelalter laufen (über Karl den Großen, Otto den Großen, Heinrich II., das Heilige Römische Reich deutscher Nation, über 1106, Canossa und Heinrich IV. usw.), aber die einschlägigen Bücher von nichtdeutschen Autoren lesen: Von Jacques Le Goff, Barbara Tuchman, Stephen Runciman, Le Roy Ladurie, von Georges Duby u.a.m. Machen wir etwas falsch? Nehmen wir den großen Georges Duby (1919-1996), Mitglied der Académie Française, der von sich bekannte, er möchte mit seinen Büchern möglichst viele Menschen erreichen, »weil ich das außerordentliche Vergnügen, das mir Geschichte bereitet, anderen mitteilen will«. Sind wir zu schwerfällig, sind wir die »stulti alemanni«, die »bruti« als welche wir im Mittelalter von unseren europäischen Nachbarn häufig hingestellt werden?
Vergnügenbereitende Geschichte will gestaltet sein, und wer meint, die pure Quelle gebe genügend Auskunft und Vergnügen, Regesten reichten allemal, dem sei der Satz des Jacob Burckhardt entgegengehalten: »Alle echte Überlieferung ist auf den ersten Blick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist. Sie kündet die Anschauungen und Interessen ihrer Zeit für ihre Zeit und kommt uns gar nicht entgegen.« Der darstellende Historiker darf kein bloßer Faktenhuber sein, die Atmosphäre schafft der Geschichtsschreiber.
Wohin gehört der darstellende Historiker? »Der Geschichtsschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten«, hat Theodor Mommsen als Rektor der Berliner Universität den Studenten der Geschieht entgegengehalten, und diese Kunst der Geschichtssehreibung sei nicht zu er lernen wie ein Handwerk. Als Mommsen 1902 den Nobelpreis für Literatur erhielt (der einzige Historiker, dem diese Auszeichnung zuteil wurde), feierte ihn der schwedische Verleihungsredner Af Wirsén (1842-1912), ein Literaturhistoriker, als »den größten lebenden Meister der historischen Darstellung besonders in Anerkennung seiner monumentalen Römischen Geschichte« und hob als Wesenszug von Mommsens Gestaltungskunst dessen Phantasie hervor. Die kargen Quellen werden zu Leben erweckt. Mommsen läßt seine Römische Geschichte bis zum Ende der Republik in der Gestalt Caesars aufgipfeln; sie findet keine Fortsetzung mehr aus seiner Feder. Mommsens Caesar wirkt lebensvoll, auch durch phantasievolle Zusätze wie z.B. diesen: Caesar blieb (so schreibt Mommsen) »das erfreuliche Bewußtsein der eigenen männlichen Erscheinung. Sorgfältig deckte er mit dem Lorbeerkranz... die schmerzlich empfundene Glatze und hätte ohne Zweifel manchen seiner Siege darum gegeben, wenn er damit die jugendlichen Locken hätte zurückkaufen können«. Die fiktive Überlegung Caesars steht selbstverständlich in keiner Quelle; sie ist Mommsens Phantasie entsprungen.
Nun sollte der Historiker seine Überlegenheit als Quellenkenner nicht zu sehr herauskehren. Auch Romanautoren haben sich umgesehen, um das Kolorit, die Gestalten, die Vorgänge wirklichkeitsgestützt wiederzugeben, und es wäre gelehrter Hochmut, über die enorme Rezeptionsleistung z.B. eines Flaubert hinwegzusehen, der für seinen allmählich gewachsenen Roman Salammbô eine Bibliothek von 1500 Bänden durchgearbeitet haben soll.
Wenn man mich heute fragte, in welchem modernen Buch ich das Mittelalter am dichtesten dargestellt finde − Gedankengänge, soziale Schichtung, monastisches und kirchliches Leben, Ketzertum und Kirchenzwang, Handel, Städteordnung usw. −, ich wäre geneigt, Umberto Ecos Roman Der Name der Rose zu nennen, wo ganze Quellenabschnitte raffiniert wortgleich und doch angepaßt eingeschmolzen sind wie die Prozeßakten des 1389 verbrannten Minderbruders Fra Michele oder der Traktat über die Heilkraft und die Allegorie der Steine von echt mittelalterlicher Ernsthaftigkeit und (mit Verlaub) überzeugender Langweiligkeit.
Warum ich das alles anführe? Weil Johannes Fried die Phantasie als Gestaltungskraft einsetzt. Es ist ihm der Vorwurf gemacht worden, er erzeuge eine Stimmung wie im historischen Roman, er bezöge z.B. allgemeine Bemerkungen in annalistischen Werken über Naturereignisse auf das Leben einzelner Menschen und berichte von dem Eindruck auf diese Menschen, was in der Quelle expressis verbis nicht stehe. Doch gerade die Abhängigkeit der eigenen Existenz von den Ereignissen in Natur und Kosmos ist eine Grundeinstellung der Menschen damaliger Tage. Wenn Krankheiten oder Unwetter über die Menschen kommen, Blutwolken regnen oder Orkane rasen, so wird der Bericht häufig mit der Bemerkung ausgestattet, die Sünden der Menschen hätten das Unglück herbeigeführt; Herrscher und Kirche fordern die Menschen auf, durch Gebet und Buße die göttliche Gnade zu erbitten. Dem modernen Menschen, der naturwissenschaftliche Vorgänge analysiert, vom Ozonloch bis zum Treibhauseffekt, bleibt diese transzendente Welt verschlossen; seine Welt ist, um einen Begriff Max Webers aufzunehmen, entzaubert. Wir sind furchtloser und ärmer.
Fried bezieht bei seiner Darstellung die Mentalität damaliger Menschen in die »historische Darstellung« ein und bemüht Phantasie und Spekulation. Beide zählten zweifellos zu den wertvollsten Fähigkeiten des Menschen, so konstatiert Johannes Fried und fragt: »Wie sollten ohne sie Fakten zueinander finden, wie verflossenes Geschehen in einer sich der Vergangenheit erinnernden Gegenwart aufgefunden werden? Nichts macht sich selbst zum Faktum, alle Geschichte bedarf eines schöpferischen Aktes des Historikers.«
Wie weit darf man die Phantasie walten lassen? Fried hat bei seinem großen Wurf, bei seinem Weg in die Geschichte, für den er den Preis des Historischen Kollegs erhielt, die frühmittelalterliche Welt des 10. Jahrhunderts entstehen lassen. Fried versieht es, die bloße Schilderung geradezu poetisch zu überhöhen. Als er die allmähliche Hinwendung des Landvolkes zur Stadt zeigen will, setzt er eine Fabel des 11. Jahrhunderts ein: wie ein zu plötzlichem Reichtum gekommener Kleinbauer sich »mit Verschlagenheit, Lügen, Tricks gegen die etablierte Gesellschaft« durchsetzt. »Man feilscht, man streitet; alle Schuster (es geht um Häuteverkauf) laufen zusammen. Der Büttel schleppt die Dörfler vor den Richter, der ihre Häute zum Pfand und ihre Barschaft als Strafe nimmt. Ohne Ware und Geld kehren sie heim... Der Ruf des neuartigen Standes« hatte sie gelockt; »reich sein wollen«, »Glück haben« können, solche Sehnsüchte verwirrten die Sinne; »der Segen des Handels« blendete sie alle. »Wir müssen nicht länger im Regen pflügen« – »auch der Dorfpfarrer träumte davon«. Die Darlegung ist mit Zitatfetzen aus der Quelle unterlegt, was dem Text etwas Hämmerndes gibt und die Hektik, den Rausch des neuen Stadtlebens widerspiegelt.
Zur Phantasie, zur Wortpräzision, zur poetischen Überhöhung kommt in Frieds Wissenschaftssprache noch etwas hinzu, was nicht den Stil betrifft, jedoch auf diesen sich auswirkt: Fried erschließt neue Forschungsfelder, und hierin geht sein letztes großes Werk besonders weit: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. Es geht nicht allein darum zu zeigen, daß die Erinnerung das Geschehen verformt; im Gehirn selbst gibt es unterschiedliche neuronale Aktivitäten.
Vor rund hundert Jahren, vor dem Ersten Weltkrieg, gehörte es zum Selbstverständnis eines aufgeklärten Gelehrten, daß er seinen Körper zur Obduktion freigab. So hielt es auch Theodor Mommsen. Sein Gehirn hat der berühmte Pathologe David Hansemann (1858-1920), ein Schüler Rudolf Virchows, seziert und Mommsens Fähigkeiten mit der Gehirnstruktur in Beziehung gesetzt:

»Beim Gehirn Mommsens fällt an beiden Hemisphären ein besonderer Windungsreichtum im Stirnhirn auf, was als Ausdruck bedeutender Assoziationstätigkeit, bzw. Kombinationsfähigkeit aufgefaßt werden kann. Die sog. Zentralwindungen, das Gebiet für die Abgabe der bewußten Bewegungsimpulse der Extremitäten, sind beiderseits einfach gestaltet, was mit den Angaben übereinstimmt, nach denen Mommsen keinerlei besondere manuelle Geschicklichkeiten besaß. Auch das dem Gehör dienende Gebiet im Schläfelappen beider Seiten zeigt eine auffallende Einfachheit der Faltung und der Gliederung, ein Umstand, der mit dem geringen musikalischen Sinn Mommsens in Beziehung gebracht werden kann.«

Alle diese Zuordnungen sind, wie mir neurologische Kapazitäten versicherten, heute aufgegeben.
Aber Fried geht es nicht um solche Hirnprovinzen, von denen sich gewisse Fähigkeiten ableiten lassen. Ihm geht es um Formen des Gedächtnisses. Es habe »den Anschein, als bewahre das semantische Gedächtnis die aus der erlebten Wirklichkeit gezogenen Lehren, das kontextunabhängige Wissen, länger und zuverlässiger als das episodische Gedächtnis die Umstände, denen sich das Wissen verdanke. Unsere Erinnerungen sind somit weniger daten- als bedeutungsgenau, was für die Beurteilung von Erinnerungsprodukten erheblich sein dürfte.« So Fried. Und in der Tat: Episodische Ereignisse erweisen sich häufig als brüchig.
Wir leben in einer Zeit, die gerade dieses deutlich macht, in einer durch kritisches Infragestellen destruktiven Zeit. Die Italiener feiern den bedeutungsschweren Helden von Legnano, Alberto da Giussano, der Kaiser Barbarossa zu Fall brachte (er ziert das Parteiabzeichen der Lega Nord), die Schweizer ihren Teil und die Engländer Robin Hood, sie alle aber sind fiktive Gestalten. Eine Verschriftlichung ist kein Realitätsbeleg; sie fixiert, »was der Schriftkundige gemäß seinem erinnerungsgespeisten Vorwissen seinen kognitiven Fähigkeiten selektierte«. So drohen in Frieds rigoroser Betrachtung Chlodwigs Taufe ebenso wie die Gestalt des Mönchsvaters Benedikt von Nursia als ein »Mythos, eine fromme Legende, ein Phantom« gedeutet werden zu müssen. Fried empfiehlt eine gedächtniskritische »Memorik«, die vor allem die erzählenden Quellen analysiert, weniger die normativen Texte.
Fried hat in seinem ausgreifenden wissenschaftlichen Schrifttum sehr heterogene Gegenstände behandelt, und es werden unterschiedliche wissenschaftliche Landschaften durchschritten, die eine adäquate Sprache fordern: die Entstehung des Juristenstandes, das päpstliche Schutzprivileg, die Genese des polnischen und des ungarischen Königtums, Friedrich II. und sein Falkenbuch, in geradezu aufklärerischer Differenziertheit die Ursprünge der Deutschen und Deutschlands bis in das 11. Jahrhundert, um einige Gegenstände zu nennen, und nun, was uns alle aufschreckt, der »Schleier der Erinnerung«, der Aufruf zu einer eigenen Betrachtungsweise, zu einer, wie Fried es nennt, »Memorik«, die Formung historischer Sicht unter Berücksichtigung neuronaler Konstanten, eine »brilliant geschriebene und auf hohem Niveau argumentierende Studie«, wie eine umfassende Rezension hervorhebt (V. Depkat).
Wir ehren mit Johannes Fried einen der originellsten Historiker deutscher Zunge, der vielfach außerhalb der ausgetretenen Heerstraße sich bewegt, der nachgeplapperte, aber falsche Selbstverständlichkeiten kritisch auflöst, der uns auf geradezu revolutionären Wegen zu neuen Sichtweisen und Wahrnehmungen führt, alles vorgetragen in einer disziplinierten und eleganten Sprache, die zur Eingängigkeit seiner Darlegungen entscheidend beiträgt.