Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Carolin Emcke

Geboren 18.8.1967

... die mit ihren Reportagen und Essays extreme Erfahrungen von Gewalt und Ausgrenzung hierzulande und in Konfliktzonen in aller Welt reflektiert und mit Mut und Sensibilität versucht, den Sprachlosen Gehör zu verschaffen.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Heinrich Detering
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Gustav Seibt, Nike Wagner, Beisitzer Peter Hamm, Joachim Kalka, Navid Kermani, Per Øhrgaard, Michael Stolleis, Jan Wagner

Laudatio von Valentin Groebner
Mittelalterhistoriker, geboren 1962

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist ja immer einfacher, wenn man der Erste ist, der eine gute Schreiberin ins helle Licht rückt. Das bin ich nicht. Carolin Emcke ist eine vielgelobte Autorin. Deswegen wäre es wahrscheinlich einfacher, wenn so ein ordentlicher viereckiger Zeitungsherausgeber oder Hintergrund-/Auslandschef hier eine Laudatio halten würde – jemand, der sie in Nachrichtenmagazinen und Wochenzeitungen als Reporterin angestellt hat. Oder jemand aus dem Theater – sie macht seit Jahren eine Gesprächsreihe an der Berliner Schaubühne. Oder ein gründlicher Philosoph – in diesem Fach hat sie promoviert. Die Jungs fürs große Ganze also. Ich bin aber Historiker, wir sind eher für die Details von gestern zuständig, und deswegen komme ich mir ein bisschen wie der falsche Fachmann vor.
Aber am falschen Ort zu sein – also an einem, der für einen nicht vorgesehen war, auch von einem selber nicht – ist manchmal genau das Richtige. Und das zeigen Carolin Emckes Texte. Schreiben als Berichterstattung kann nicht anders, als sich um Unmittelbarkeit zu bemühen. Nicht um Reinheit – im Gegenteil, man wird angefasst, mit hineingezogen, mit eigenen starken Empfindungen kontaminiert und verliert den Überblick. Und gelegentlich auch die Fassung. Carolin Emcke geht es um Augenzeugenschaft als Direktheit, gerade angesichts von extrem vertrackten Zuständen. Denn solche komplizierten Orte sind es, von denen sie berichtet: Bürgerkriege. Flüchtlingslager. Krankenhäuser, in denen die zivilen Opfer vermeintlich chirurgisch präziser Militärschläge liegen. Therapiestationen für Folteropfer. Boys-and-girls-Tanzclubs. Deutsche Islamdebatten. Oder wenn der Bundestag über die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare diskutiert. Oder der EU-Parlamentspräsident aus Auschwitz twittert. Kurz, wenn es sehr, sehr unübersichtlich wird.
Carolin Emcke will aber nicht einfach kopfüber ins Superkomplizierte. Sie glaubt an die Macht der Sprache, die Leser etwas erfahren zu lassen, was sie eigentlich nicht wissen wollten. Sie hat ein Verhältnis zum Pathos, zum Text als einer Maschine, die Gefühle erzeugen kann. Und sie hat ein noch intensiveres Verhältnis zur ersten Person Plural, zum Wir. Über den Anspruch an ihre eigenen Texte habe ich sie sagen hören: »Sie – die Texte – sollen so zart sein, dass sie gegen die Vereinfachungen ankommen.« Das ist ihr Credo, wenn Sie so wollen. Präzision als Instrument gegen das Stumpfe, Grobe: ein Wir behaupten, das subtiler und klüger daherkommt. Es gibt ja nicht nur Über-Ichs. (Die sind es ja meistens, die in dem großgeschriebenen deutschen Wir stecken.) Sondern auch Über-Dus – als übermächtig beschriebene und idealisierte Gegenüber. Und natürlich auch deren negative Variante, die vereinfachten, vergröberten Unter-Dus; vor allem, wenn von diesen Leuten in der Mehrzahl die Rede ist. Die Flüchtlinge, die Kurden, die Palästinenser, die Muslime: In den Reportagen und Essays von Carolin Emcke erscheinen sie nirgends als ein solches Unter-Die, denen ein deutsches Ich gegenübersteht. Sondern als Personen mit einem Namen und einer möglichst konkreten Lebensgeschichte. In einem ihrer Bücher beschreibt Carolin Emcke eine Frauenärztin und deren Familie in Pakistan, an der afghanischen Grenze – die trifft sie, weil sie dort für jemanden eine Packung Antibabypillen besorgen muss. Nicht ganz einfach mitten im Anti-Terror-Krieg in Peshawar. »Sie waren«, schreibt sie, »witzig und herzlich, gebildet und unendlich milde mit mir, die ich so viel weniger über ihre Welt wusste als sie über meine.« Oder, in einem sehr viel neueren Text über das Auffanglager für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt, ist es ein nigerianischer Flüchtling mit dem schönen Namen Osadebamwen Edosa, der vorher in Spanien auf dem Bau gearbeitet hat, heiter und charmant; über seine vielen anderen Nebenjobs sagt er nicht immer die Wahrheit. Wie denn sein amtlicher Aufenthaltsstatus sei? »Dungdung«, sagt Edosa, lacht und zieht seine Bescheinigung hervor. »Aussetzung der Abschiebung« steht darauf: »Duldung«.
So geht Amtsdeutsch auf Nigerianisch-Spanisch in Eisenhüttenstadt. Dann kommt heraus, dass der charmante Edosa wegen Drogendelikten gesucht wird, er wird in die JVA Cottbus verlegt, die muslimischen Flüchtlinge prügeln sich mit den christlichen, und in der Krankenstation bricht multiresistente Tuberkulose aus. So ist die deutsche Wirklichkeit nämlich. Oder so ist sie auch, ein kleines, aber nur ein kleines bisschen entfernt von hier, sechs Zugstunden. »Ich will«, hat Carolin Emcke mir einmal geschrieben, »ich will, dass Schreiben Aufwand bedeutet, Arbeit, und bei Langzeitbeobachtungen mag ich, wie das Sehen sich verändert und das Lernen Teil der Geschichte wird.«
Solche neuen Subjektivitäten aus Gegenwart und neu erzählten Vergangenheiten – migrantisch, hybrid, queer – lassen sich leicht sehr flott ausflaggen. Sie werden sehr rasch umgemünzt in eine normative Kultur, in der Betulichkeit, Konkurrenzkampf und Selbstverwertung manchmal sehr gut zusammenspielen. Aber das tut die selbstbewusste Aktivistin Carolin Emcke eben nicht, wenn sie als Autorin genau hinsieht. Auf schwule Fußballer zum Beispiel; auf Flüchtlinge in Abschiebelagern, die eben nicht immer Josef und Maria auf Herbergssuche sind, sondern dieselbe Welt bewohnen wie wir, nur eben im dreckigen Kellergeschoss. Oder wenn sie die bizarren Formen beschreibt, in denen in Deutschland über Muslimas und Muslime geredet wird. Carolin Emcke schreibt ohne die üblichen vertrauten »Wir wissen ja«-Abkürzungen. Sie will so direkt wie möglich – also unhöflich – davon berichten, was sie gesehen hat. Und was wir nicht verstehen. Was uns aber – als Bild, als Schrecken, als Rätsel – nicht mehr loslässt. Davon handeln ihre Texte.
Ich bin ja nur der Fachmann für die Details von gestern. Aber ich glaube, bei einer Laudatio geht es nicht nur um die Person, die da gelobt wird. Mindestens ebenso sehr geht es um die Institution, die den Preis vergeben hat. Wenn die Laudatio richtig sein soll, dann handelt sie nicht nur von Carolin Emcke und den schönen, berührenden Texten, die sie schreibt. Sondern es geht auch darum, die Akademie zu loben, dass sie Carolin Emcke auszeichnet. Und das mache ich natürlich gerne.
Carolin Emcke ist neugierig, aber rigoros. Sie ist streng, aber sehr branchée. Sie ist heiter, aber von großer moralischer Ernsthaftigkeit. Der ist es nicht egal, was passiert.
Geschichte ist genauso wie die wirkliche Gegenwart das, was wir uns nicht aussuchen können. Die hat sich uns ausgesucht. Und davon, von diesen Unfreiwilligkeiten, jetzt, handeln die Texte dieser Berichterstatterin. Und dafür schreibt sie: um so genau und so bewegend wie möglich von denjenigen Teilen der deutschen Gegenwart zu erzählen, von denen man manchmal lieber nichts wissen möchte. Carolin: herzlichen Glückwunsch oder, wie man in Ludwigsburg, Ottensen, Wien-Margareten oder Kreuzberg auch sagt: tebrik ederim, öptüm.