Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Wolfgang Koeppen

Schriftsteller
Geboren 23.6.1906
Gestorben 15.3.1996
Mitglied seit 1961
Homepage

So liegt ein Gesamtwerk vor, das sich gleichermaßen durch Mut wie durch künstlerische Darstellungskraft auszeichnet.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Hermann Kasack
Friedrich Bischoff, Kasimir Edschmid, Hanns W. Eppelsheimer, Richard Gerlach, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini, Gerhart Pohl, Dolf Sternberger, W. E. Süskind, Fritz Usinger

Laudatio von Walter Jens
Altphilologe, Schriftsteller und Übersetzer, geboren 1923

Meine Damen und Herren, der Mann, den wir feiern: Wolfgang Koeppen, hat, wie viele Autoren von Rang, einige wenige Motive und Themen – ich greife heute eines davon heraus die er mit Ernst und Konsequenz jahrzehntelang verfolgt. In der Beschränkung zeigt sich der Meister; der Verzicht auf die trügerische Omnipotenz verrät die Souveränität eines Künstlers, der sein Handwerk gelassen beherrscht. Man denkt an Thomas Mann. Kein Neuansatz von Werk zu Werk, kein dilettantisches Experimentieren, sondern das Durchdenken der gleichen Probleme, die Wiederholung der Topen: Variation und Metamorphose ist auch Koeppens Geschäft. Was einmal anklang, kehrt wieder; was ans Licht kam, wird weiter verfolgt. Mögen die Figuren Namen und Schicksal vertauschen – ihre Gedanken verändern sich nicht. Friedrich, der hoffnungslose Protagonist aus Koeppens erstem Roman feiert in der Maske des traurigen Philip fröhliche Urständ; Keetenheuves Zweifel und Siegfried Pfaffraths Resignation entsprechen einander. Koeppens Helden sind Saturnier; der älteste Planet gab ihnen die Schwermut, und mit der Schwermut die Weisheit, gab ihnen Witz und Gedanken, und mit den Gedanken die Tränen. Alle, wie sie auch heißen, gehören jener »geheimen Sozietät« an, »so man die Melancholischen nennt«; sie stammen aus Jacobsens Reich, Büchner hat ihrer gedacht; immer wieder, von Ficino und Melanchthon bis zu Kierkegaard und Baudelaire wurde ihr Schicksal beschworen, immer wieder jene Vereinigung von Exzellenz und Schwermut analysiert, die Aristoteles vor 2300 Jahren als erster beschrieb. »Anatomy of melancholy«, das ist auch Koeppens Devise; sein Werk beweist, daß jene große Schule der Schwermut, als deren Schöpfer Chateaubriand gilt, noch immer nicht geschlossen ist; jedes Jahrhundert hat seine eigene Trauer, und keine Leuchtschrift löscht den Namen Hamlets aus. Im Gegenteil, vielleicht sind wir die ersten, die zu Tausenden das melancholische Schicksal Kassandras erleben: als Wissende verloren zu sein.
So betrachtet, stehen Koeppens Helden im Schatten einer sehr erlauchten Tradition: das Antlitz der Dürerschen Trauer; die florentinische Elegie: der in Careggi versammelte Medici-Kreis; Melanchthons Spekulationen; die Trauer de Mussets: »ich habe die Schwermut erkannt und geliebt«; Verse von Trakl; das herbstlich verlassene Balbec: wie viele Assoziationen verbinden sich mit den Partisanen der tristesse, denen Koeppen ein Denkmal gesetzt hat: Narren auf brüchigem Seil, Schattenkämpfer im Dienst einer verlorenen Sache, früh gealtert und von der Schwermut bestimmt. Dabei schließen Mut und Melancholie einander nicht aus. So furchtsam Koeppens Helden sich geben: die Entschlossenheit, der Gorgo ins Auge zu sehen und – die schwerste Last! – das Martyrium des Zweifels auf sich zu nehmen, steht niemals in Frage. Mögen Tod und Vergessen den Ängstlichen noch so sehr locken: am Ende harrt er doch im Kerker seiner Einsamkeiten aus und bewahrt, als freiwillig Exilierter, Würde und Moralität des Ghetto-Bewohners. In der Erfüllung des Auftrags: in jenen Zonen Notizen zu machen, wo jeder andere flieht, hat er seine Augen so sehr an den Schrecken gewöhnt, daß selbst Mörder im Angesicht dieser furchtlosen Schwermut unsicher werden.
Unter solchen Aspekten haben Koeppens Protagonisten, diese früh gealterten, in brüchigen Villen und schäbigen Hotels vergrabenen Ästheten viel mit dem Krausschen Nörgler gemein: dem Allerschwächsten kommt das Amt des Weltenrichters zu. Auch das Pandämonium aus den »Letzten Tagen der Menschheit« kehrt im »Treibhaus« wieder, im »Tod in Rom«, in »Tauben im Gras«. Feme-Mörder und Flaneure, Fanatiker und Zweifler geben sich ein Stelldichein, die Figuren wechseln die Masken: Gauleiter-Kinder, verratene Nornen und Greise von zärtlicher Bosheit... Dana, der Zeitungspatriarch aus dem »Treibhaus« verwandelt sich im »Tod in Rom« in Austerlitz, einen kränklichen Waffenmagnaten. Eine Kraussche Szenerie fürwahr, die Koeppen mit Negern und Provinzialpräsidenten, Schwulen, Dienstmännern und Priestern bevölkert – eine Hölle aus saturnischer Sicht: aber welch eine wohlgeordnete Hölle! Koeppen ist ein Meister des Arrangements – wie er die Fäden verknotet und wieder entwirrt, wie er den Schauplatz bestimmt, auf dem man sich trifft und sich trennt, bei grünem Licht, bei rotem Licht... wie er, mit Puppenspieler-Leichtigkeit, die Figuren zu jenem genau berechneten Punkt führt, an dem sich alles entscheidet, dem Münchner Negerclub oder der Bar mit den wippenden Kellnern... in der Tat, die Szenerie verrät die Kunst des Mathematikers, deutet auf Reißbrett und Zirkel. Doch gerade der Zirkel gehört ja ebenso wie das Gerät der Medizin in die Hände der Melancholie!
Allerdings erfaßt die Mine, die den Kreis umgrenzt, nur den Raum. Die Zeit entzieht sich ihr in gleichem Maße wie sie dem Zugriff der berechneten Fabel entgeht; der Roman ist nun einmal zu handlungsbeschwert, zu vordergründig und zu krud, als daß er das freie, zeitüberspringende Phantasiespiel: den Tiefenblick der Schwermut erlaubte. Wer sich mit eingestreuten Assoziationen nicht begnügen will – Gedanken zwischen Aktion und Aktion wer nicht nur den Stein beschreiben möchte, sondern auch die Füße, die ihn betraten... wer hinter dem Flug der Sekunde den Wolkenschatten der Geschichte braucht: dem wird der Roman nicht genügen.
Koeppen jedenfalls genügte er eine Weile lang nicht. Schon »Der Tod in Rom« hatte gezeigt, daß er die Silhouette des Perfekts brauchte, um der Gegenwart Konturen zu geben: »es war einmal eine Zeit, da hatten Götter in der Stadt gewohnt«. Richtig betrachtet, steht der »Tod in Rom« den spanischen Impressionen näher als den frühen Romanen. Ein Schriftsteller weigerte sich, den beschreibbaren Raum mit dem beschränkten Radius seiner Figuren zu identifizieren: auch außerhalb ihres Gesichtsfelds gab es Paläste und Kirchen, Gespräche und Träume, die fixiert werden wollten. Erst jenseits ihrer kurzen, auf die Handlung zielenden Gedanken, aber auch jenseits des Autoren-Kommentars begann das Riesenreich der Geschichte, regierten die Kaiser, wehte der Wind, laichten die Fische im Fluß. Die Vergangenheit, mit einem Wort: das Märchen der Zeit, war für Koeppen zu rätselbeladen, als daß er es mit Hilfe einer simplen Fabel (familiär, privat und belanglos) hätte einfangen können. Ich meine, er ging einen richtigen Weg, als er in seinem Meisterstück, dem Spanienessay, die Fabel zerschlug und stattdessen daranging, mit einem plötzlich »freigegebenen« Vokabular jene kühnen raumzeitlichen Muster zu schaffen, deren Perfektion wir bewundern.
Erst die Notwendigkeit, eine Zusammenschau geographisch und chronologisch disparater Elemente zu geben, der Zwang, zugleich Newton und Kronos zu sein, Simultaneitäten zu schaffen und in einem Atemzug von Orpheus und Elvis Presley zu reden, gab seiner Sprache Schwerelosigkeit und Eleganz. Jetzt endlich, in der freien Prosa des Reise-Berichts, konnte Koeppen mit der Sprache schalten, wie es ihm gefiel, konnte Bildungs-Reminiszenzen einfließen lassen und, ohne Rücksicht auf die Fabel, Namen und Daten beschwören. Im Gegensatz zum Autor halte ich die Fahrten-Journale nicht für »Kulissen-Beschreibungen« oder »Umwege zum Roman«. Was sich im Munde erdachter Figuren gespreizt und peinlich belehrend ausmacht – gerade in der lyrischen Parabel, in Sternescher Meditation und ikanischem Flug steht es am rechten Ort; hier ist das Spiel mit den Jahrtausenden erlaubt (Kronos, der griechische Saturn, lebt jenseits der Zeit), hier bieten sich die unerwarteten Vergleiche und zugespitzten Antithesen geradezu an: der Mond über der Backsteinpfarre von Reinfeld und der Kithairon-Schrei, gefangen in Holsteiner Gäßchen, die Engel über dem Tiber und der Schnee in der Berliner Nettelbeckstraße, Daedalus im Dufflecoat, die geimpften Ritter und der Viersternegeneral auf elyseischem Feld...
Kein Zweifel, daß ein solcher Röntgen-Blick, der hinter den Fassaden die verschiedenartigsten Schichten, Ablagerungen und Formationen entdeckt, sich auch in weniger historischen Zonen, im Genre-Bild und auf den Feldern des Biotischen, ja, selbst im Kulinarischen, bewährt. Wohl dem, der nicht nur die Gerichte, sondern auch ihre Herstellungsart, den Kochprozeß, zu beschreiben versteht! Calamares, in blauer Sauce gedünstet, Hafergrütze, die die graue Gemütlichkeit eines Nebeltags hat, in Butter gesottene Krebse und wollüstige rote Riesenerdbeeren: in der Tat, nicht nur Keetenheuve oder Kürenberg, auch Koeppen selbst ist ein gourmet und »Coquinologe« von Rang, würdig einer großen Tradition, würdig selbst Juvenals, Marcel Prousts oder jener Julia Mann, von der das Plettenpudding-Rezept aus den »Buddenbrooks« stammt.
Wie wenige Poeten haben heute noch diese lateinische Zunge, den sicheren Geschmack und vor allem einen Geruchssinn, der sich, in der Mediterranée so gut wie in puritanischen Gefilden, als unbestechlich erweist. Die Sicherheit, mit der Koeppen Gerüche bestimmt (an Hemingway, doch auch an legendäre Hausarzt-Künste erinnernd): die Feinheit seines Sensoriums erweist sich dort am mächtigsten, wo er zum ersten Mal den Geschmack eines fremden Kontinents spürt – in New York den Hauch der Niederlande, dampfige Schwaden und den Atem der Prärie oder in Spanien den alles verzaubernden Wind, der am Abend, von den Guaderrama-Bergen hinab, in die Madrider Straßen fällt und nach Schnee und Trockenheit riecht. Ein Bild, ein plastisches Eigenschaftswort, und schon ist der Eindruck fixiert! Koeppen beobachtet scharf; er wartet und drängt sich nicht auf; seine Diktion verrät Bedachtsamkeit; das Schwergewicht liegt auf den Nomina, die Verben sind leicht, eher konventionell als barock. Nein, hier jagt kein Harpunier seine Beute, hier angelt ein geduldiger Fischer. Koeppen sagt: »es kam auf mich zu«, er vermeidet die Floskel »ich habe gefunden«. Sympathien ergeben sich ganz wie von selbst: das Kinderland im Osten (»Winterfreuden, die Katze am Ofen, Bratäpfel im Rohr«), Holland, der Widerschein von Surinam und Surabaya über den Grachten, das Mittelmeer und Rom, der abendliche Blick über die heiligen Hügel.
Der Augenblick, in dem der Tag in die Nacht übergeht, die heure bleue, das Wunder der saturnischen Stunde, hat Koeppen immer wieder inspiriert: kluge Doktoranden werden in einigen Jahren die Münchner city-Impressionen aus »Tauben im Gras« mit der Manhattan-Phantasmagorie des amerikanischen Essays vergleichen.
Und dann die Nacht, die sanfte, von Laternen und Bäumen behütete Nacht am Washington-Square, die Schwärze über der Rambla und, schon gegen Morgen, die Stille an der Fontana di Trevi. Im Dunkel des Zimmers geborgen, hinter Gardinen versteckt, im Schiff und im Schlafwagenzug, sehend, aber unsichtbar, schaut Koeppen hinaus; das Fenster ist sein Lieblingsplatz (auch seine Favoriten, Kürenberg und Siegfried Pfaffrath, stehen da), der Jalousienspalt sein Okular. Während sich die Welt um ihn herum bewegt, bleibt er selber regungslos und notiert: klappernde Domino-Steine, Straßenbahn-Blitze, die erleuchtete main-street, Rufe eines blinden Losverkäufers vor dem Haus. Erinnert man sich an die ins Weite gerichteten Augen der Melancholie; denkt man an Lichtenberg im Schatten des Fensters, an Proust in dämmrigem Zimmer, Boulevard Haussmann 102, an Flaubert: Frédéric Moreau auf dem Balkon, vor sich die Seine und die Quais? Wie ein gefesselter Prometheus, angeschmiedet aber wachsam, schreibt Koeppen auf, was er sieht; sein Auge ist sicher, er weiß, erst aus der Distanz zeigen die Dinge ihr wahres Gesicht, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, gibt die Welt ihre Geheimnisse preis. Gespenstisch, wie die Tarnkappen-Perspektive die Konturen verändert! Das Licht wirkt künstlich und grell; die Menschen führen sich wie Puppen auf; ihre Gesten sind starr und mechanisch, und das Marionetten-Dasein gibt ihnen einen Hauch von Bergsonscher Komik: die Kassiererin im Kinokasten hat sich in eine Damenbüste verwandelt, die im Schaufenster des Frisiersalons steht; Beichtväter sitzen in ihren Stühlen wie Schalterbeamte. Alles wirkt geborgt, aus zweiter Hand und schemenhaft, Schatten flattern umher; im Schein künstlicher Sonnen regiert Hades die Stunde. (Der Tod und der kalte Glanz des Gestirns: auch dies gehört, so gut wie Nacht und Meer, zum Bild der saturnischen Melancholie.)
Noch einmal klingt das große Thema des Jahrhunderts an; noch einmal wird das von Broch und Thomas Mann so oft beschworene Katabasis-Motiv variiert, noch einmal steigt man zu den Schatten hinab; aber die Koeppensche Hölle ist, anders als der Zauberberg, der Lage und dem Ausmaß nach nicht genau lokalisierbar. Sie weiß sich zu tarnen und hat viele Gesichter. Meistens erscheint sie illuminiert; zehn Jahre vor Sartres »huis clos« hat Koeppen den grell erleuchteten Hades im Bildnis jenes Lampensaals vorweggenommen, den Friedrich, der hoffnungslos Liebende, zu kontrollieren hat. Immerhin, ob Schatten oder bleiches Licht, ob Bierschwemme, Kühlhaus oder Vergnügungsetablissements, ob Albergo diurno oder irisches Bad: es ist Vorsicht geboten, die Folterknechte sind maskiert, Feme-Mörder streichen herum, und der Tod tritt in den mannigfaltigsten Gestalten auf. Abermals erweist es sich, wie entschieden Koeppen das einmal angeschlagene Motiv von Buch zu Buch variiert: »sie fuhren in der Gondel«, heißt es im ersten Roman, »und sie empfanden den Sarg, als sie, im Gleiten durch die kleinen Kanäle, ihre Hände auf dem schwarzen, lackigen Holz des Schiffes liegen sahen«. Siebzehn Jahre später in »Tauben im Gras« hat sich das geschnäbelte Schiff in einen Cadillac verwandelt, nicht Sibylle und Friedrich, sondern Mr. Edwin und ein Chauffeur sitzen im Auto, doch auch der Wagen ist ein Sarg – der Koeppensche Tod liebt den Pomp. Er gleicht einem Spanier aus der Habsburger Zeit, der die Welt in tintige Girlanden hüllen will: selbst der Oleander im Konzert-Saal erinnert, ein wenig bombastisch, an Krematoriums-Kälte. Der Tod und die Melancholie, der Kampf des Ritters von der traurigen Gestalt gegen den schwarz gekleideten Schlächter, den es zu stellen, zu entlarven und in allen seinen Masken zu beschreiben gilt: das ist Koeppens großes, einziges, wahrhaft Büchnersches Thema.
Kein anderer Schriftsteller hat den Saturnier des zwanzigsten Jahrhunderts, den Danton des technischen Äons so exakt dargestellt und, in seiner Widersprüchlichkeit, so komplex analysiert. Wie modern ist diese Welt, wie unvergleichlich auf den ersten Blick, und doch – welche Schatten dämmern herauf: Odysseus und Hamlet, Philipp II, im Kerker des Excorial, umgeben von den Bildern des Hieronymus Bosch, Goya, Velasquez und Greco... ist es ein Wunder, daß Koeppens Prosa sich dort am reichsten entfaltet, wo es das Land des Glanzes und der Melancholie, Spanien, zu zeichnen gilt? »Aber der Emst und die Schwermut der spanischen Berge, der Ernst und die Schwermut der vegetationslosen Landschaft, der Ernst und die Schwermut noch in den Tälern üppiger Fruchtbarkeit mit grellgrünen Kaktusfeigen und flammendroten Blüten, der Ernst und die Schwermut der kalkweißen Häuser im grellen Sonnenlicht, der Ernst und die Schwermut... in den Augen der spanischen Kinder, sie und die Schatten, die Schatten in den dunklen spanischen Kirchen, die Schatten in den dunklen spanischen Zimmern hinter den geschlossenen Jalousien, dies und die Laute der Städte, der ewige Ruf der blinden Losverkäufer, das Tappen des Stockes dieser Unglücklichen auf dem Pflaster der Straße, das dürre Klappern der Dominosteine in der Hand der Männer am Nachmittag zur Zeit der Siesta in den Kaffeehäusern und in den Hotelhallen, das ist Spanien, ein unvergeßliches Land.«
Um ermessen zu können, was Koeppens Berichte für die Literatur unseres Landes bedeuten, muß man, soll Vergleichbares genannt sein, an Hofmannsthals Griechenlandfahrt, ja, an die Reisen des »anderen Jakobiners«, Georg Försters, erinnern; denn welche Beute wird, am Ende dieser flüchtigen Unternehmungen, nach Hause gebracht! Wie viele Lokalitäten, berühmte und vergessene Zonen, gewinnen Profil, und wie gewaltig umspannt man noch einmal – und endlich wieder – das Ausmaß jener saturnischen Melancholie, die allzu lange nur mit Hilfe medizinischer Termini analysiert worden ist, und deren Spuren Koeppen überall findet: »Schwermut, Schönheit, Vergangenheit« in Amsterdam, Sonntags-Traurigkeiten in New York, das »Selbstgespräch uralter Einsamkeiten« im Süden der Staaten... wie viel, noch einmal, wurde erobert, und welche Fahrten stehen bevor! Wäre ich ein reicher Verleger: ich würde Wolfgang Koeppen als Gesandten nach Dänemark schicken; denn ich stelle mir vor (und unversehens mache ich mir seine Optik zu eigen), ich stelle mir vor, der Strøget läge so verlassen wie zu Kierkegaards Zeit; aus winzigen Fenstern blaken die Lampen, graue Fahnen hängen über dem Sund, alles ist klein, kunstvoll, von der Anmut der Zwerge erfüllt, und Koeppen geht, in Frederiksborg, durch den französischen Park. Doch könnte es auch das rudolphinische Prag sein, das Goldmachergäßchen und der spanische Saal... es gibt noch viele Städte, die darauf warten, von einem Mann beschrieben zu werden, der als Prosaist (ich spreche nicht vom Romancier) heute seine Konkurrenten suchen muß. Wer sonst erreichte die Höhe Hofmannsthalscher Studien: die südfranzösischen Eindrücke, Salzburger Impressionen und das Griechenland-Journal...? (Hat nicht auch Hofmannsthal im lyrischen Essay sein Bestes gegeben? Die Beschreibung Salzburgs, die im Bericht über die Mozart-Centenarfeier steht, mutet, bis in den Stil hinein, geradezu wie ein Archetypus von Koeppens Prosa an: »... die gurgelnde, sprudelnde, unbändige Salzach, und drüben die neue Stadt, modernes Gewimmel, Frack, Uniform, auf offenem break-coach ein Halbdutzend junger blonder Mädchen, das schimmernde Viereck voll lichter Schultern und scheinender Köpfchen, hinschwankend zwischen grünen Bäumen und Pferdeköpfen. Und nachts auf dem gelbschäumenden Wasser der unstete Widerschein bengalischer Lichter...«)
Aber zurück zu Koeppen... wenn er freundlich ist, sind seine Pfeile sanft; der Würde des Spiels, dem Unvollkommenen und dem ziellosen Treiben jener Boheme gilt seine Liebe, deren Scherze er so vorzüglich beschreibt und so schmerzlich vermißt. Auch das Mißlungene, ehrenwert Gescheiterte, ja, selbst das Lächerliche, darf seiner Achtung gewiß sein. Der Zorn erwacht erst im Angesicht eines Bürgeridylls, das sich so gut mit dem Terror verträgt. Wenn der Barett-Träger Wagner und Beethovens Totenmaske in der Wohnzimmerecke erscheinen (und sie erscheinen gleich zweimal, im »Tod in Rom« und in »Tauben im Gras«), wenn Korpsstudenten marschieren, deutsche Frauen zu singen beginnen und deutsche Männer sich, wieder einmal, ihrer Militärzeit erinnern – dann wird der Zirkel zum Degen, und der Melancholiker erscheint als Moralist. Doch Haß und Schwermut sind ungleiche Brüder. Koeppens Stärke heißt Lyrismus und geflüsterter Befehl, Florett- (nicht Degen)-Schärfe, leiser, didaktischer Ernst und schwebende Sanftmut. Nicht die Karikatur, der Rundgesang im römischen Hotel – »ein feste Burg ist unser Gott« – sondern der Traum von der großen Versöhnung, die Ahnung einer Zeit, in der ein jeder überall willkommen ist: das Gegenbild erst zeigt den Abstand zwischen Utopie und Realität.
So kalt und perfekt Koeppen den Hades der Moderne beschreibt, so genau er Bescheid weiß in Zonen, die erfüllt sind von den Schreien der Zeitungsverkäufer und der säuselnden Musik über den Gräbern Forest Lawns; so furchtlos er die Maske der Erinnyen betrachtet hat: die Schatten halten ihn nicht. Snobismus ist ihm fremd, die Gorgo hat sein Auge nicht getrübt, davor schützt ihn seine wissende Schwermut, die, aufs Endliche sehend, allen Verführungen des Terrors widersteht. Wenn Koeppen die hellen Bilder, Licht und Zartheit, sieht, hält er sie fest und betrachtet sie lange. Sein Stil gewinnt dann eine Nuance schwebender Gelassenheit, die sich sehr gut mit der Schwermut verträgt: Musik und Melancholie, David und Saul, gehören zusammen. Lange zurückgehalten, beginnt in solchem Augenblick das reine Lied der Poesie, eine Kantilene aus Leonce-Bezirken, der herbe, unverfälschte Matthias-Claudius-Ton: Kreuze sind mit Blumen geschmückt, die Polen fahren in ländlichen Wagen zur Kirche, Washington Price, ein Negersoldat, träumt von seinem Haus, in dem es keine Rassentrennung mehr gibt, und in den Bäumen von Paris, in der Nähe des Boulevard Saint Michel, spürt man den Wind aus Griechenland. Wenn der Morgen kommt, verlischt Saturn, Kauz und Uhu verstummen, der Fledermausflügel erlahmt und es wird Tag zwischen Boston und Rom – ein Tag, perlmuttern und schön, ein Tag, wie ihn nur Koeppen zu beschreiben versteht.