Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Heiner Müller

Dramatiker und Theaterregisseur
Geboren 9.1.1929
Gestorben 30.12.1995
Homepage

... für seine unbequeme Theaterarbeit, mit der er das zeitgenössische Theater und sein Publikum unnachgiebig provoziert.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Beda Allemann, Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Günter Busch, Hans-Martin Gauger, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bruno Snell (Ehrenpräsident), Dolf Sternberger (Ehrenpräsident), Bernhard Zeller, Ernst Zinn

Laudatio von Helmut Krapp
Journalist, Dramaturg und Filmproduzent, geboren 1929

»... wie das Insekt im Bernstein«

1

In den Spuren, unter der Überschrift MOTIVE DER VERBORGENHEIT, erwähnt Ernst Bloch, wenn er das Incognito des Vollkommenen erläutert, eine anderswo geltende Gebrauchsanweisung dafür: »Ist diese Geschichte nichts, sagen die Märchenerzähler in Afrika, so gehört sie dem, der sie erzählt hat; ist sie etwas, so gehört sie uns allen.« Ich glaube, daß dieser Satz etwas mit Heiner Müller zu tun hat, nicht nur, weil er die Enteignung des Urhebers vorsieht. Das betrifft Heiner Müllers poetische Theorie. Seine poetische Praxis ist auch behelligt. Zuletzt wurde er – zum wievielten Mal – im Jahresheft Theater Heute 1985 um Antwort auf die Frage gebeten, warum er eigentlich so wenig original erfinde und viele seiner Stücke Bearbeitungen von Romanen, Mythen, alten Szenarien, von Motiven und Modellen Anderer seien.

Warum?

Heiner Müller hat dafür gelegentlich arbeitspraktische Gründe genannt. Die sind sehr wichtig. Höher freilich rangiert sein Hinweis auf Aischylos, Sophokles, Shakespeare, als Dramatiker gegebener Stoffe und nicht von Einfällen. Dennoch kann man die Geschichte des Dramas nicht als Serie von Plagiaten lesen. Manchmal fällt das Original auch hinter die Kraft des Abgeschriebenen zurück. Dann verdreht sich die Kausalität. Das wußte, wie so vieles, Brecht zuerst. Meistens sind die großen Stoffe gegebene Stoffe, doch macht die Gegebenheit die Einfälle nicht entbehrlich. Das Drama ist, nach einer frühen Definition von Lukačs, eine Form der »intensiven Totalität«. Für den Entwurf eines gegebenen Stoffes in diese Form ist der Autor verantwortlich. Auch Büchners WOYZECK ist abgeschrieben. Die Geschichte des wirklichen Franz Woyzeck aus Leipzig stand in Henkes »Zeitschrift für die Staatsarzneikunst«, deren Bände bei Büchners daheim gesammelt wurden. Sie gäbe Stoff auch für viel weitläufigere Kunstleistungen her als ausgerechnet für dieses kurze, jähe Szenarium, das Büchner verfaßte. Warum unter vielen Fällen diesen Fall? Wahrscheinlich findet ein Autor nichts, was er nicht selbst schon erfunden hat. So gesehen zählt die Geschichte des Franz Woyzeck weniger als Büchners Begriff von der Wirklichkeit.

Heiner Müller hat sich der alten Mythen, der alten und der neuen Texte bedient, um seinen Begriff von Welt vorzuführen. Und in der Tat entfernt sich der MAUSER von Brechts MASSNAHME ziemlich. Die Mythen sind tief eingestanzt in unser Gedächtnis. Sie sind unentrinnbar. Sie gestatten uns, Erfahrungen und Bedeutungen zu lesen, die in ihnen so mustergültig aufgehoben sind, daß wir uns darin wie in unseren eigenen Konflikten wiederfinden.

2

Die poetische Theorie Heiner Müllers. Sie folgt dem Usus afrikanischer Märchenerzähler, die eine gute Geschichte für alle reklamieren, die Bedeutung also an ihrer Allgemeinheit taxieren anstatt an ihrer Einzigartigkeit, obwohl beides, in Einzelfällen, widerspruchslos zusammenkommt. Heiner Müller hat das – besser kann das keiner – so formuliert:

»Die großen Texte des Jahrhunderts arbeiten an der Liquidation ihrer Autonomie, ... an der Enteignung, zuletzt am Verschwinden des Autors. Das Bleibende ist das Flüchtige. Was auf der Flucht ist, bleibt. Rimbaud und sein Ausbruch nach Afrika, aus der Literatur in die Wüste. Lautréamont, die anonyme Katastrophe. Kafka, der fürs Feuer schrieb, weil er seine Seele nicht behalten wollte wie Marlowes Faust: die Asche wurde ihm verweigert. Joyce, eine Stimme jenseits der Literatur. Majakowski und sein Sturz aus den Himmeln jenseits der Literatur in die Arena der Klassenkämpfe... Artaud, die Sprache der Qual unter der Sonne der Folter... Brecht, der das neue Tier gesehen hat, das den Menschen ablösen wird. Beckett, ein lebenslanger Versuch, die eigene Stimme zum Schweigen zu bringen.«

Das ist der Kanon der Avantgarde. Und die Avantgarde wurde, wie man liest, von der Postmoderne überholt, einem Zustand von Zeit, dem die Zukunft abhanden gekommen ist.

3

Seine Biographie hält Heiner Müller geschlossen. Darin unterscheidet er sich. Lange ist es noch nicht her, daß aus den Befindlichkeiten eines schreibenden Ichs, das seine Kindheit und Jugend zu erinnern begehrte, viel Literatur herausgeschlagen wurde. Müllers biographisches Axiom ist anderthalb Zeilen kurz. Es steht wie ein Refrain in den Taschenbüchern des Rotbuch Verlags, der das Werk ediert, im Anhang dort: »Heiner Müller, geboren 1929 in Eppendorf (Sachsen), Dramaturg an der Volksbühne Berlin (DDR).« Früher war als Arbeitsplatz das Berliner Ensemble angegeben. Der Satz reicht für viel Zeitgeschichte. Die wenigen Reflexionen, die sein Leben betreffen, sind konzentriert und exemplarisch. Sie haben für die erinnerbaren Bilder der Außenwelt kein Interesse. Müller läßt die ›Naturalien‹ der Wirklichkeit links liegen. Seine Neugier kann der Vielfalt und Unendlichkeit mikroskopischer Bewegungen des Lebens nichts abgewinnen. Seine Schreibweise ist die Makroskopie. Darin wird das bloß Symptomatische unscharf bis zur Unsichtbarkeit. Er installiert jeden Konflikt in der Vertikalen des Kopfes. DER VATER zum Beispiel, ein Prosatext in zehn Teilen, dem alle Gefühle herausgelöscht und an dem die Stigmata der Wut und der Verzweiflung wegplaniert scheinen. Das Protokoll einer Nichtbeziehung, bis zur letzten Begegnung, eine Glastür dazwischen, die verschlossen bleibt, obwohl der Vater heftig daran rüttelt. Dieser vollkommen beruhigten Prosa versetzt Müller zwei Schläge, unter denen sie aufreißt und die Sprengkraft unter ihrem Panzer zur Kenntnis bringt. Das sind sechs Zeilen, dem Text vorangestellt. Sie definieren die Lesart und bringen eine Empfindung auf den Begriff:

»Ein toter Vater wäre vielleicht / Ein besserer Vater gewesen. Am besten / Ist ein totgeborener Vater. / Immer neu wächst Gras über die Grenze. / Das Gras muß ausgerissen werden / Wieder und wieder das über die Grenze wächst.«

Und, als ob der Deutlichkeit des Mottos zu mißtrauen wäre, sorgen plötzlich – mittendrin – fünf kursive Zeilen für einen Emotionssturz in diesem verglasten Tableau, als der Junge dem Vater die Hand nicht reichen kann, weil die Maschen im Drahtzaun des Konzentrationslagers zu eng sind:

»Ich wünschte mein Vater wäre ein Hai gewesen / Der vierzig Walfänger zerrissen hätte / (Und ich hätte schwimmen gelernt in ihrem Blut) / Meine Mutter ein Blauwal mein Name Lautréamont / Gestorben in Paris 1871 unbekannt.«

Die großen Fische aus den Gesängen des Maldoror, der sich wünschte, lieber der Sohn einer Haiin geworden zu sein und eines Tigers – die Anrufung eines Namens wie ein utopisches Zeichen, ein großes Gedicht bewahrend, in dem einer für die unheilbaren Verwundungen seiner Kindheit Bilder über Bilder erfand.

Beide Textpartikel sind, glaube ich, auch Indizien für zwei Weisen zu phantasieren: eine parierte, kategorische, Paradoxe erzeugende und sie noch einmal umstülpende Logik; und eine aggressive, defaitistische, anarchische, zerstörerische, subversive Assoziation. Beide Weisen kommen im Werk von Heiner Müller pur vor, aber auch zusammengerenkt zu Verspannungen, deren einziger Zweck es ist, im Theater ihr Knarzen, ihr Brechen und ihr endliches Zerreißen zu erfahren.

4

Ich verstehe so die Szene NACHTSTÜCK. Sie ist der drittletzte Durchgang in GERMANIA TOD IN BERLIN. Heiner Müller beschreibt einen Bewegungsablauf, der wegen der Kraßheit seiner Poesie nicht von Chaplin stammt. Aber Chaplin sitzt im Schnürboden dabei. Auf der Bühne ein überlebensgroßer Mensch, der »vielleicht eine Puppe ist«. Er läuft einem Fahrrad hinterher, das sich ihm vermittels Bühnentrick immer wieder entzieht. Vorher, jeweils vorher, stürzt er. Die dafür verantwortlichen Hindernisse verschwinden in der Versenkung. Nacheinander reißt er sich beide Beine und beide Arme aus, so daß er das Fahrrad nicht mehr gebrauchen kann. Die Stacheln aus Becketts SPIEL OHNE WORTE 2 spießen ihm die tränenden Augen aus dem Kopf. »Er schreit. Der Mund entsteht mit dem Schrei.« Diese Darstellung führt die Begriffe theatralisch vor, von denen sie handelt. Sie behauptet zum Beispiel, daß die Wirkungen der Ursachen, die wir zu sehen kriegen, von diesen Ursachen gar nicht bewirkt worden sind. Die Kausalität ist eine verheerende Fiktion. Der Mensch, »der vielleicht eine Puppe ist«, sucht die Gründe für sein Scheitern, da er sie außer sich nicht finden kann, an sich. So beginnt er mit seiner Verstümmelung. Der Mensch, »der vielleicht eine Puppe ist«, hat seine Katastrophe, seinen Tod selbst angezettelt. Zu spät reißt ihm der Schmerz den Mund auf. Denn der Schmerz ist der Verfasser der Sprache von Anfang an. Erst später kommt das Mundwerk hinzu. Das Theater von Heiner Müller ist eine kollektive und auswendige Form der Reflexion. Es hat sich eingenistet an jener Stelle, an der das Denken außen angekommen ist und körperlich werden will. Es geht um die Physik der Ideen, um den Diskurs der Körper.

5

Das sprachlose NACHSTÜCK kommentiert eine vorherige Szene aus GERMANIA TOD IN BERLIN: einen Brudermord in Deutschland. Dessen Vorgeschichte hebt in der NACHT DER LANGEN MESSER an, dem ersten Paradigma aus der SCHLACHT. Der eine Bruder ist ein Bekenner, der andere ein Verräter. Man muß das, außer verwandtschaftlich, auch zeichenhaft als die zersprungene Identität des Einen verstehen. Der Nazi, der noch kein Verräter war, als er von allen schon dafür gehalten wurde, kriegt den Leib in Fetzen gefoltert und entspricht fortan dem Bild, das sich die Anderen von ihm machen. Die Wirkung steht auf dem Kopf und sieht wie eine Ursache aus. Der Bruder ruft mit einem höhnischen Gedicht die Passion der deutschen Kommunisten in den Konzentrationslagern auf, als sie um ihre Heimat gebracht wurden, während sie noch in ihr angekettet waren. Dieser Kommunist wird bei dem verzweifelten Schrei »Wer bin ich« von den Zellengenossen und seinem Bruder totgeschlagen. Es ist der 17. Juni 1953. Eine Gefängniszelle. Ostberlin. »Der Mund entsteht mit dem Schrei.«

Die deutsche Bruderschaft beginnt bei Heiner Müller mit einer Story aus den Annalen des Tacitus. Von Ufer zu Ufer über die Weser stehen sich der Cherusker Arminius und sein Bruder, der den Römern dient, gegenüber. Jeder will den Anderen zum Abfall von den Seinen auf die eigene Seite überreden. Sie streiten sich, sie erheben die Speere, Arminius beginnt den Kampf. Bei Heiner Müller ist das kein Votivbild für die fromme Allgemeinheit des Bruderbegriffs, wie er an politischen Sonntagen im Schwange ist. Und die Weser gleicht nicht einfach der Elbe von heute zwischen Wittenberge und Lauenburg. Heiner Müller ist Marxist. Er ist Kommunist. Er ist Bürger der DDR. Er ist dies alles drei mit kritischer Insistenz. Er denkt die Kategorien seiner Philosophie ohne Gefälligkeit, ohne Müdigkeit und ohne Nachsicht. Das plaziert ihn zwischen die Provinzen und zwischen deren Herrschaften. Er existiert – ohne Zahlwort – zwischen Deutschland.

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Für Heiner Müller war die deutsche Geschichte eine Obsession. Um die zu zerstören, hat er über sie geschrieben. Seine Darstellungen sind durchpflügt von Grenzen und Fronten und Gräben, nicht nur im Erdreich. Hüben und Drüben ist nicht ausschließlich eine Frage der Geographie. Der Riß springt in den Figuren auf und spaltet sie auseinander. Paradigmen der Selbstentzweiung dabei, Beispiele von unheilbarer Ambivalenz. Diskret ist dieser Befund nicht zum Ausdruck zu bringen. Müller suspendiert: das Kontinuum der Fabel, die Kausalität der Ereignisfolge, die Vergleichbarkeit der Figuren mit der Wirklichkeit. Er streicht die verbalen Warum-Darum-Sicherheiten weg. Er setzt autonome szenische Monaden nebeneinander und läßt deren nicht definierte Nachbarschaft Bedeutungen produzieren. Pantomimen der Grausamkeit, Clowsnummern, Zitate, Projektionen, Kasperlestücke, Horrorparodien, didaktische Szenen, Volkslieder, Gespenster. Ein Arsenal von Drangsalen. Der Schacht, in dem die Verdrängungen nicht zu beruhigen sind. Es geht nicht um die Würde der Mittel und um ihre Angemessenheit. Es geht um ihren sardonischen Gebrauch. Je drastischer die stilistische Differenz, desto theatralischer – im formgemäßen Sinne – stellt sich die reine Anschauung der deutschen Deformationen ein. Jedes Mittel ist recht, um das Thema den Fiktionen und den scheinheiligen Übereinstimmungen zu entreißen, unter denen seine Wahrheit versteckt ist – wie in »LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI« Lessing unter seinem Denkmal. Während er im Sand nach den Scherben anderer Denkmäler von anderen Klassikern wühlt, wird er unter die Bronze seiner eigenen Büste gesteckt, und er schreit, daß man’s hört.

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Die Dunkelheit, in deren Ruf die Texte von Heiner Müller oft geraten, ist das vorsätzliche Resultat einer horrenden Luzidität. Mit ›Dunkelheit‹ wird ja nicht eigentlich der Mangel an Klarheit moniert. Es ist eine Beschwerde über die Verweigerung des Schlüssels: der Sinn erscheint nicht, der diese Texte dadurch zu konsumieren erlaubt, daß ihr intelligibles Skelett durch hurtiges Verstehen weggeräumt und der sinnliche, der anschaubare Rest ohne Arbeit genossen werden kann. ›Sprachkraft‹ heißt der. Bei der Ausdruckshöhe dieses Werks sind die Vergnügungen, die sie entzündet, unausbleiblich. Heiner Müller konspiriert nie mit den laxen Wörtern und Formeln, die man im Kopf hat wie Verkehrszeichen, durch die man hindurchhudelt, ohne daß ein Gedanke sich ausweglos verstrickt, um etwas Neuem innezuwerden. Wie dem Autor, als dessen Talent, gehört die Sprachkraft auch dem Kunstwerk, als eine Funktion seines intelligiblen Wesens. Die ›Dunkelheiten‹ bei Heiner Müller balancieren seine Darstellungen. Sie behüten die schiere Komplexität seiner Texte davor, einsinnig rationalisiert zu werden und in bloße Informationen über sich zu zerfallen. Einige, mit großem Respekt zu lesende und kompetente Interpretationen leisten das, gleichsam posthum. Aber es ist nicht der Sinn der Kunst, jeden Zweifel auszuräumen (auch wenn das schon einmal vom Künstler verlangt wird. Wie die Diskussion über Müller aus »Sinn und Form« Mitte der sechziger Jahre beweist. Woran man sieht, daß manche Dunkelheiten bei Heiner Müllers Bau gar nicht die seinen sind, sondern die seiner Adressaten.).

Seit jeher bewahrt den Sprechenden – geht alles gut – vor dem herrschaftlich verlangten zweifelsohne die Metapher. Sie ist, außer purer Poesie, ein literarisches Vermögen, die Wahrheit dadurch zu verbreiten, daß sie sie verbirgt. Insofern ist sie ein politisches Ding. Heiner Müllers PHILOKTET, nach Sophokles, ist eine Metapher: einerseits »Handlung aus der Vorgeschichte der Menschheit«, andererseits ein Stück über die »sozialistische Revolution in der Stagnation, im Patt«, über den Stalinismus also; oder die Beschreibung des Versuchs, Trotzki heimzuholen, was andere vermuteten. Man kann denselben Vorgang noch anders lesen. So rar sind die Vergleichsfälle nicht, in denen die Wirklichkeit nach der Metapher verfährt. Sie verliert dann nur die Exaktheit des Bezugs, lebt vom Vorrat an Allgemeinem in der Konstruktion und vom Überschuß an Sprache. Eine Sache beim Namen nennen ist sowohl eine Frage der Wahrheitsliebe als auch eine literarische Kunst.

8

MACHBETH, DER AUFTRAG, QUARTETT verstehe ich nicht als Metaphern, sondern als szenische Archetypen, HAMLETMASCHINE und VERKOMMENES UFER MEDEAMATERIAL LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN als Gedichte der Zertrümmerung. Macbeth ist die brutale Reduktion eines selbst in der elisabethanischen Finsternis noch irgendwie humanen Gebildes aufs bloße Konstatieren eines blutigen Verlaufs. Fortwährendes Machtspiel um sinnlos werdende Macht: »Mit dem Messer in das Messer ist die Laufbahn.« DER AUFTRAG – ERINNERUNG AN EINE REVOLUTION, in langen monologischen Fugen verfaßt, spielt die Lage nach der Liquidierung der Revolution durch – »DIE REVOLUTION IST DIE MASKE DES TODES DER TOD IST DIE MASKE DER REVOLUTION« – Entsetzen, Gewalt und Vernichtung wüten in diesem Text. Er ruft die Dritte Welt als ferne Hoffnung an. Und QUARTETT: ein Wortstück von wüster Vollkommenheit, das die Sexualität als einzigen Umgang der Menschen miteinander vorführt. Der Umgang ist Lust, die sich nicht entfalten kann, weil sie in den Wörtern ertrinkt, Begierde und gleichzeitig Berührungsangst, Unterdrückung, Demütigung, Macht und Tod.

9

Das Neue fängt mit der Destruktion des Gegebenen an. Ob das Gegebene auch das Alte ist, hängt vom Standpunkt ab. Die Voraussetzung von Sprache jedenfalls ist das Verstummen des Geredes. Etwas zur Sprache bringen heißt bei Heiner Müller nicht nur etwas neu benennen, weil etwas neu benennen etwas neu sehen bedeutet, und etwas neu sehen ist, genau genommen, etwas neu machen im Kopf. Heiner Müller hat immer für sich beansprucht, präzise, einfach und direkt zu formulieren. In der Tat ist seine Sprache die Epiphanie der Bedeutungen und kein Gelände für Wünschelrutengänger.

Wir verfügen über Sprache. Sie ist ein Baukasten voll von informativen Floskeln, die wir benutzen, um unsere Verständigung zu ermöglichen. Wir haben Sprache wie ein Requisit, nicht als Methode zur Erkenntnis. Die an Heiner Müller gerühmte Sprachkraft kommt daher, daß er Ernst mit diesem Unterschied macht. In den Trümmern der festen Fügungen, in der Stummheit, fängt das Denken und Machen des Neuen von vorne an. Deshalb ist Heiner Müllers Sprache auf unerhörte Weise frei von Konventionen, von Vorgedachtem, von Altbekanntem. Deshalb steckt in ihr die Utopie »wie das Insekt im Bernstein«. Sie bringt Abstand zwischen sich und was an ihr so aussieht, als kennte man’s schon. Das Vertraute wirkt fremd, als käme es zum ersten Mal vor, und hat doch ein Inbild von sich in unserem Gedächtnis hinterlegt. Das Zwielicht der Inkongruenz. Deren plötzliche Erfahrung treibt uns an, die Identität wieder herzustellen. Mit seiner Sprache setzt Heiner Müller diesen dialektischen Prozeß ingang – ein Geheimnis, glaube ich, ihrer machtvollen Gebärde. »Sprache im eigentlichen Verstand«, sagt Albrecht Fabri (im INTERVIEW MIT SISYPHOS) »hat... nur der, der sie, im Sinne der gegebenen Sprache, nicht hat: der Dichter. – Ganz im Gegensatz zu dem, was uns die Wörterbücher glauben machen, ist Sprache ewiges Gerundiv.«

Horst Laube hat formuliert, daß die Texte von Heiner Müller wie Steine zwischen den Fronten liegen. Das ist eine präzise Ortsbestimmung, politisch und poetisch gesehen. Anfänglich machen sie durch Fremdheit betroffen. Das hat mit der Energiemenge zu tun, die nötig ist, um den extremen Grad an Verdichtung zu erreichen, der sie abhebt vom Meisten. Sie haben wenig Gesellschaft. Sie scheren aus in die Leere der Zwischenräume. Antwortsucher werden sich dahin nicht verirren, das Werk sondert nicht ab, was sie suchen. Die Konflikte werden nicht vermittelt. Die Sprache treibt sie vielmehr in die Evidenz der großen Abmessungen. Die Widersprüche sind wie Mauern gegeneinander gebaut. Die Utopie ist aus der Geschichte entlassen, die Welt zum Stillstand gekommen. »Ihr Herz ist ein Ziegelstein.«, sagt ZWEI ZU EINS am Ende von HERZSTÜCK. Und EINS antwortet ZWEI: »Aber es schlägt nur für sie.«

10

Verehrter Heiner Müller – die Lobrede gehört zu jenen Übungen der klassischen Rhetorik, von denen Hans-Martin Gauger gestern abend feststellte, daß wir über sie nicht mehr verfügen. Loben kann man ja nur ein Gedicht, das den Regeln gemäß verfaßt ist, die auch für alle anderen vorgeschrieben sind; so stellt sich schnell heraus, wer bei der Anwendung der Regeln der Beste ist. Sonst nichts. Ein Werk, das wie Ihres so zwingend und notwendig in der Zeit ist, von ihr gezeichnet und sie zeichnend, existiert einfach, es ist da ohne Wenn und Aber. Mit Lob kommt man ihm nicht bei. Dafür ist es einfach zu wichtig und zu groß geraten.

Ich gratuliere Ihnen herzlich.