Wulf Oesterreicher
Riecht nach Chemie

Mitte Mai dieses Jahres − wir erinnern uns alle ja noch an die Frühlingssehnsucht, die wir bei den diesjährigen Wetterverhältnissen entwickelten − war in einer großen süddeutschen Tageszeitung auf der Seite ‚Wissen’ eine schöne, große farbige Abbildung roter (und noch grüner) Erdbeeren eingerückt. Die Überschrift zum 16-zeiligen, dreispaltig gesetzten Kommentar, ohne Verfasserangabe, lautete „Riecht nach Chemie“, und im ersten Satz stand immerhin „unter dichtem Grün locken reife Erdbeeren mit ihrem betörenden Duft“.

Dann aber kommt der wissenschaftliche Ernst ins Spiel und es wird berichtet, dass Chemiker enthüllen konnten, wie die Früchte zu ihrem Aroma kommen (es wird auch verwiesen auf das Journal of Biological Chemistry, online). Der Journalist fährt fort, dass insbesondere eine Substanz namens Furanol dafür verantwortlich sei, die vielleicht „geheimnisvoll, aber wenig appetitlich klingt − vor allem wenn sie fachlich korrekt HDMF (4-Hydroxy-2,5-dimethyl-3(2H)-furanon) genannt wird“. Die Chemiker haben durch eine Röntgenstrukturanalyse die Entstehung der Substanz aus Fruchtzucker klären können, wobei der letzte Schritt, mit dem „Elektronen zielgerichtet übertragen“ werden, allerdings noch unbekannt sei.

In meinem kurzen Kommentar soll es nicht um die komplexen chemischen Zusammenhänge gehen, sondern allein um in meinen Augen fragwürdige Begriffsverwendungen sowie ärgerliche Argumentationsstrukturen.

Für den Autor der Bildunterschrift handelt es sich bei den referierten wissenschaftlichen Ergebnissen um starke ‚Versachlichungen sinnlicher Erlebnisse’, immerhin gesteht er noch zu: „Trotz aller Entsinnlichung bewirkt das Aroma doch wieder Faszination [...]. Das Aroma der Erdbeere bleibt also doch etwas Besonderes“.

Wer nun den auf der Homepage der Technischen Universität München (TUM 10.5.2013) von den Forschern Wilfried Schwab und Arne Skerra veröffentlichten Kurzbericht nachliest, erfährt nicht nur, dass die Geruchskomponente nicht Furanol, sondern Furaneol heißt, sondern er kann auch etwas über „Die molekularen Grundlagen des Erdbeeraromas − Warum die Erdbeere nach Erdbeere riecht“ erfahren. Furaneol (der Name der chemischen Verbindung ist übrigens gesetzlich geschützt) wird inzwischen auch als Aromastoff und Geschmacksverstärker eingesetzt.

Bei diesem Sachstand ist es für einen Journalisten, der in der Abteilung ‚Wissen’ schreibt, erstaunlich und wenig professionell, für den Erdbeer-Artikel eine sehr wertende, weil mit negativen Assoziationen besetzte Überschrift zu wählen, die den Leser im schlimmsten Fall an ‚Chemie-Tomaten’ oder an nach Fischmehl riechende und entsprechend schmeckende Eier erinnert. Zweitens fragt man sich natürlich, wie es überhaupt möglich ist, einen wissenschaftlichen Namen und seine Abkürzung wertend als „geheimnisvoll, aber wenig appetitlich“ zu bezeichnen. Drittens, und dieser Punkt ist entscheidend, verwischt der Kommentar den Unterschied zwischen sachlichen Gegebenheiten/Objektebene (Erdbeeraroma), der begrifflichen Erfassung/Meta-Ebene (wissenschaftliche Erkenntnisse in der Chemie) und der wissenschaftlich-terminologischen Kennzeichnung der Ergebnisse. Und was, viertens, die Schlusssequenz insinuiert, hängt mit dem Gesagten zusammen und ist ebenfalls völlig schief: Bleibt das Aroma der Erdbeere nur deshalb etwas Besonderes, Faszinierendes, weil der Mechanismus der zielgerichteten Elektronen-Übertragung noch „bisher unbekannt“ ist?

Die wissenschaftlich drapierten Bemerkungen in der Bildunterschrift dienen also keinesfalls der Aufklärung des interessierten Lesers. Derartig schiefe und aphoristische Verlautbarungen haben im Wissenschafts-Teil einer seriösen Zeitung, wo durchaus ‚vulgarisierend’ vorgegangen werden muss, nichts verloren − auch nicht als ein freundlich gemeinter Sommergruß.

Wulf Oesterreicher, August 2013