Wulf Oesterreicher
Amerikanisches Englisch

Es gibt für Sprachen wie das Englische, das Spanische, das Portugiesische und das Deutsche in der Sprachwissenschaft eine Kennzeichnung, die sich in der Nachfolge des von Michael Clyne 1992 herausgegebenen Buches Pluricentric languages. Different Norms in Different Nations weithin durchgesetzt hat. Es handelt sich um so genannte plurizentrische Sprachen, also Sprachen, die nicht nur eine einzige präskriptive Schrift- oder Standard-Norm, sondern mehrere Standards besitzen.

Diese Normen sind, bedingt durch die jeweiligen historischen Entwicklungen (Nationalstaatenbildung, Kolonialreiche, Konfessionskriege usw.) mit der Bildung kultureller und wirtschaftlicher Zentren, demographischen Entwicklungen und den dadurch auch sprachlich gegebenen De-Zentrierungen entstanden. Sie sind in ihren Territorien als gültige, auch schriftsprachliche Standard-Normen akzeptiert. ‚Plurizentrik’ impliziert als Produkt historischer Entwicklungen deshalb aber noch keine völlige ‚Gleichwertigkeit’ der betroffenen Standards, weil Sprachen in ihren gesellschaftlichen Kontexten spezifisch funktionieren und auch unterschiedliche Kriterien für die Bewertungen der Sprachen in Anschlag zu bringen sind: Geschichtliches Prestige, ökonomische Macht, sozio-kulturelle Strahlkraft, die häufig mit dem Literaturbetrieb, dem Buchdruck, neuerdings auch mit Medienmacht verbunden ist.

Es ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die hier relevanten phonetischen (auch graphischen), morphologischen, syntaktischen und vor allem lexikalischen Unterschiede sich in ganz unterschiedlicher Verteilung und in unterschiedlichem Ausmaß ausprägen (zum leichteren Verständnis gebe ich allerdings nur einige lexikalische Beispiele) − Interkomprehension, also gegenseitige Verständigung, ist aber in jedem Fall mit diesen Standardnormen gegeben (im Unterschied zu der bei drastischen dialektalen oder gruppensprachlichen Unterschieden in ein und derselben Sprache gelegentlich gerade nicht gegebenen Interkomprehension).

Diese Zusammenhänge lassen sich beim Englischen besonders rasch erläutern, bei dem mit Großbritannien, den USA, Südafrika usw. in den genannten Hinsichten sehr unterschiedliche Nationen existieren. Der Fall des plurizentrischen Spanischen zeigt aber auch schon, dass es gerade nicht Ländergrenzen sein müssen, die für die plurizentrischen Normen entscheidend sind: Es ist nämlich nicht möglich, dem europäischen Spanisch ein lateinamerikanisches, genauer: hispanoamerikanisches Spanisch gegenüberzustellen, weil es mindestens in Mexiko, im La-Plata-Gebiet mit Buenos Aires, wohl auch in den Andenstaaten Peru, Bolivien und Ecuador Regionalnormen gibt, die für die entsprechenden Gebiete hoch- und schriftsprachliche Normen vorgeben und gleichzeitig bewirken − man vergleiche nur etwa den Einfluss Mexikos auf die kleineren Staaten Mittelamerikas −, dass nicht jedes Land einen eigenen Regionalstandard besitzt. Während es beim Portugiesischen evident ist, dass in Brasilien und Portugal zwei zu unterscheidende Sprachformen der historischen Sprache Portugiesisch länderbezogen verteilt sind, kann man beim Spanischen oder Englischen streiten, wie viele und welche plurizentrischen Normen zu unterscheiden sind.

Für das Deutsche sprach man schon vor Michael Clyne von ‚nationalen Varietäten’ (besser ist aber die Bezeichnung ‚Regionalstandard’) und meinte damit eben das Deutsche in Österreich, in der Schweiz und in Deutschland (die Diskussion um das ‚Zwischenspiel’ des so genannten DDR-Deutschen ist inzwischen beendet: Plaste, Broiler usw.). Wenn also im österreichischen Bundesrat von einer Jänner-Sitzung die Rede ist, Österreicher färbige Wäsche und Paradeiser, Karfiol usw. erwähnen oder etwa in der Schweiz für eine Wanderung wehrschafte Kleidung erforderlich ist, ein Passant den Vortritt nicht beachtete und überfahren wurde oder ein Redner in seinem Vortrag ein Problem vorher schon angetönt hat, dann handelt es sich im Blick auf das Deutsche um regional gültige Sprachformen. Diese dürfen eben nicht als ‚dialektal’ oder ‚mundartlich’ bezeichnet werden, da es sich um österreichische oder schweizerdeutsche Standardformen handelt.

Entscheidend ist, dass diese Formen der Plurizentrik gerade nicht im Sinne einer Entwicklung zu einer Sprachspaltung interpretiert werden dürfen, wie dies gelegentlich geschieht (verfehlterweise wird dabei als Beleg gerne die Entstehung der romanischen Sprachen aus dem Lateinischen angeführt, bei der aber gerade nicht die hoch- und schriftsprachlichen Normen entscheidend waren, sondern sprechsprachliche Varietäten des Lateins, die der Romanist unter dem Begriff des ‚Vulgärlateins’ fasst).

Bei der Plurizentrik geht es also in der Regel um relativ wenige sprachliche Erscheinungen, die im angedeuteten Sinne hoch-/schriftsprachlich sind und gerade nicht durch die zahlreichen eher mündlichen Varietäten definiert sind. Die Einheit der Sprache wird also nicht in Frage gestellt, weder von den Sprechern noch von Anderssprachigen: Sie wissen alle, dass in Hispanoamerika spanisch, in Amerika, Großbritannien, Südafrika oder Indien englisch, in Deutschland, Österreich und der Schweiz deutsch und in Portugal und Brasilien portugiesisch gesprochen wird. Heute ist es im Übrigen höchst interessant zu verfolgen, wie im Zeitalter der Globalisierung und der Medienverbreitung die Regionalstandards sich teilweise abflachen und auch schon Ausgleichstendenzen feststellbar sind.

Damit wird natürlich gar nicht in Abrede gestellt, dass sich aus historischen Sprachen und ihren Varietäten unter bestimmten sprachexternen Gründen neue Sprachen entwickeln können, wie dies etwa mit dem Niederländischen in der Frühen Neuzeit geschehen ist. Interessanterweise ist ein solcher Prozess aber für das restliche Niederdeutsche nicht eingetreten, das im Verbund des Deutschen verblieben ist, obwohl mit der Macht der Hanse und der norddeutschen und skandinavischen ‚Stadtstaaten’ mit ihren engen wirtschaftlichen und konfessionellen Beziehungen im Nord- und Ostseeraum eine solche Entwicklung zur sprachlichen Selbständigkeit historisch durchaus denkbar war.

Trotz alledem ist der Begriff der Plurizentrik naturgemäß nicht überall beliebt: Puristen und sprachkonservative Zeitgenossen bestreiten seine Anwendbarkeit auf ‚ihre’ Sprache und kritisieren seine Verwendung gelegentlich scharf, da sie eben die Einheit des Sprachlebens in Gefahr sehen. So ist etwa für viele unserer französischen Nachbarn die Vorstellung ein Graus, dass das Französische, das in ihren Augen seit dem siècle classique, der Aufklärung und der Literatur des 19. Jahrhunderts bis heute höchste kulturelle Strahlkraft besitzt und ‚rein’ bewahrt werden soll, noch weitere Schriftnormen besitzen soll − also etwa das Französische im kanadischen Québec, von Formen des afrikanischen Französischen ganz zu schweigen. Die nationale Hochschätzung des français républicain führte bekanntlich dazu, dass die französische Sprache seit der Französischen Revolution ein Verfassungsgut ist und auch noch heute so definiert ist. Wir Deutschen haben es in dieser Hinsicht etwas leichter: Gegenüber der ‚Verfassungsnation’ Frankreich ist ‚Deutschland als Kulturnation’, wie man vor der preußischen ‚kleindeutschen Lösung’ von 1871 sagte, nicht mit der staatlichen Einheit ‚Deutschland’ zu identifizieren, was naturgemäß auch die Diskussion der Plurizentrik des Deutschen entkrampfen konnte.

Kurz und gut: Die Konzeptualisierung der angesprochenen Zusammenhänge mag manchem Betrachter linguistisch-pedantisch erscheinen, die intellektuelle Hygiene gebietet es aber, die angedeuteten Unterschiede ernst zu nehmen und für plurizentrische Sprachen begrifflich saubere Formulierungen zu wählen: Nicht nur an den Universitäten ist so im Studienfach ‚Portugiesisch’ das europäische und das brasilianische Portugiesisch angesiedelt, sondern es wird auch aus diesen zwei Sprachformen übersetzt, wobei die oben erwähnte Geschichtstiefe und das Prestige von Schriftsprachen (die nicht einfach mit Eurozentrismus zu verrechnen sind) dazu führten, dass ein ‚übersetzt aus dem Portugiesischen’ einem ‚übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch’ gegenübersteht (eben nicht ‚übersetzt aus dem Brasilianischen’). Beim Deutschen ist es übrigens wohl ganz selten (zumindest ist mir kein Fall bekannt), dass Übersetzungen aus dem Deutschen herkunftsbezogen eigens genauer mit einem adjektivischen Zusatz gekennzeichnet werden.

Dies ist nun eben beim Englischen absolut notwendig, und in diesem Sinne ist von Verlegern und Übersetzern dringend zu fordern, dass die falsche Angabe ‚übersetzt aus dem Amerikanischen’ aufgegeben und systematisch ersetzt wird durch die richtige Formulierung ‚übersetzt aus dem amerikanischen Englisch’; im Übrigen können natürlich Formulierungen wie ‚übersetzt aus dem indischen Englisch’, ‚australischen’ oder ‚karibischen Englisch’ ebenfalls sinnvoll sein. Auch für die Rezensenten in den Feuilletons unserer Zeitungen ist eine Berücksichtigung dieser Hinweise anzumahnen.

Wulf Oesterreicher, August 2013