Hans-Martin Gauger
Herr Ramsauer!

Es hat sich fest eingebürgert, dass in Rundfunk und Fernsehen Politiker, die der Regierung angehören, wenn mit ihnen geredet wird, ohne ihren Amtstitel angeredet werden: ‚Herr Ramsauer!’, ‚Herr Rösler!’, ‚Frau von der Leyen!’, ‚Herr de Maizière’, ‚Frau Schröder!’... Vor ‚Herr Gauck!’, sicher, schreckt man zurück, auch, aber nur noch wenig, vor ‚Frau Merkel’. Warum sagt man nicht, mit oder ohne Nachnamen, ‚Herr Minister Ramsauer’ oder ‚Herr Minister’? Oder ‚Frau Ministerin’ oder ‚Frau Ministerin von der Leyen’? Auch ‚Herr Staatssekretär’ wäre ja denkbar. ‚Herr Ministerpräsident’ hört man schon eher, aber meist doch auch ‚Herr Bouffier’ oder ‚Frau Karrenbauer’. Dagegen sind dann wieder, aber nun außerhalb der Medien, aber da ist eben größere Nähe, ‚Herr Oberbürgermeister!’ oder ‚Herr Bürgermeister!’ und auch ‚Frau Landrätin!’ ziemlich üblich...

Warum verzichtet man in Fernsehen und Funk auf die Anrede mit Titel? Warum hat sich dies fest eingebürgert? Und ‚eingebürgert’ ist wohl hier das richtige Wort. Man versteht es nämlich als ungeheuer demokratisch. Man will als ‚Bürger’, als ‚Staatsbürger’ (aber – was ist dies eigentlich?), den Politikern – und denen, die einer Regierung angehören, erst recht – ‚auf Augenhöhe’ oder (wie man etwas redundant ebenfalls sagt) ‚auf gleicher Augenhöhe’ entgegentreten. Und Bürger, die im Funk und Fernsehen agieren, Großjournalisten also – und insofern ‚Großbürger’ in der Tat – wollen dies erst recht. Sie beanspruchen es. Warum sollten Frau Schausten oder Frau Miosga oder Herr Hahne oder Herr Deppendorf zu irgendjemandem ‚Frau Ministerin’ oder ‚Herr Minister’ sagen oder gar sagen wollen? Wäre es nicht devot oder servil? Wäre es nicht vordemokratisch? Schließlich sind Journalisten ja Vertreter der ‚vierten Gewalt’, somit der nunmehr hübsch sogenannten ‚Publikative’. Sie gehören – und übrigens ist dies ein enormes, noch dazu, jedenfalls in den Spitzen, recht gut bezahltes Privileg – zu den „öffentlich Meinenden“ (so sagte schon Nietzsche). Nun ist im Prinzip gegen diese ‚vierte Gewalt’ natürlich gar nichts zu sagen, ganz im Gegenteil (sehr viel aber wäre gegen die ‚fünfte’ zu sagen: die ‚lobbyistische’, so unvermeidbar sie offensichtlich ist). Die enorme Wichtigkeit der ‚vierten Gewalt’ zeigt sich dort, wo sie, wie nunmehr etwa in Ungarn, also innerhalb der Europa-Union, allenfalls in Resten noch vegetieren darf (dort kümmert, nach den grotesken Beschneidungen, die das Verfassungsgericht erfahren hat, auch die Judikative nur noch dahin, Legislative und Exekutive funktionieren praktisch unkontrolliert: Videant Europae consules!). Übrigens sollte man diese vierte Gewalt wirklich nur bildlich, nur metaphorisch so nennen, denn sie ist ja, auch in einer Demokratie, alles andere als das Produkt einer demokratischen Wahl...

Der nahezu durchgehende Verzicht, in Fernsehen und Funk, auf die Anrede mit Titeln ist nun aber gerade demokratisch nicht legitimiert. Demokratisches Denken forderte eigentlich genau das Umgekehrte, und ich meine hier wirklich nur die demokratisch erworbenen Amtstitel, nicht solche Titel wie ‚Professor’ oder ‚Doktor’. Da sind wir Deutschen eher titelsüchtig, allzu titelsüchtig. Oder übertreffen uns da noch immer die Österreicher? Den Professor Müller einfach mit ‚Herr Müller’ anzureden, wäre schon eher demokratisch zu begründen. Die demokratisch erworbenen Titel gehen als solche – direkt oder indirekt – auf die Wähler zurück, auf den, wie die Schweizer so treffend sagen, „Souverän“. In ihnen ehren sich die Wähler, in ihnen ehrt sich demokratische Gesinnung selbst. Und entsprechend sind sie ja auch Titel, die, sehr anders als ‚Doktor’, nur für eine genau bemessene Zeit verliehen werden. Nach dieser ist wieder alles offen. Man muss oder müsste sich dann erneut für sie bewerben.

Ich meine nun gar nicht, dass man immer, ohne jede Ausnahme, in direkter Anrede ‚Herr Minister’ sagen sollte. Aber man sollte es doch immer mal wieder sagen. Und jedenfalls nicht meinen, eine solche Anrede sei vor- oder undemokratisch devot. Sicher trüge die häufigere Verwendung dieser Titel auch zu angemessenem Staatsbewusstsein bei. So wie das Umgekehrte ihm abträglich ist.

Wie ist es anderswo? Denn immer ist ein solcher Blick lehrreich. Beim Vergleich mit England und Frankreich (bleiben wir mal in Europa) zeigt sich da sogleich der Zusammenhang mit einem ärgerlichen Manko der deutschen Sprache: Wir können in der Anrede nicht einfach Herr oder Frau sagen, so wie man französisch Monsieur und Madame sagen kann. Und diese beiden Wörter sind bereits als Anreden, was hier wichtig ist, respektvoll distanziert. Wir müssen (es ist der Sprachgebrauch, also letzlich die Sprache selbst, die uns dazu zwingt) immer den Namen dazusagen, was sehr bekanntlich vor allem dann zusätzlich ärgerlich ist, wenn einem der entfallen ist. Auch die Anrede Sir braucht oder vielmehr sie erlaubt keinen Nachnamen. Und dem spanischen Señor kann man zwar den Namen hinzusetzen, aber für sich allein ist die Anrede schon durchaus respektvoll – Señor ist zum Beispiel die ausreichend korrekte Anrede für den König (man muss ihn nicht mit ‚¡Majestad!’ anreden). Und in den spanischen Medien heißt es in der Anrede an der Premierminister, der dort Presidente heißt („Präsident des Ministerrats“), kaum je ‚¡Señor Rajoy!’, sondern ‚¡Señor Presidente!’ oder dann auch einfach, was bei uns auch nicht geht (und was jedenfalls mir besonders gefällt), einfach, also ohne Señor, ‚¡Presidente!’. Da sagt man dann auch einfach ‚¡Ministro!’ oder ‚¡Ministra!’ oder auch, wenn es um einen Botschafter oder eine Botschafterin geht, ‚¡Embajador!’ und ‚¡Embajadora!’. Also etwa: ‚Was halten Sie von dieser Meinung, Minister?’, ‚Botschafter, was sagen Sie zu dieser Entwicklung?’. Das wäre nun wieder bei uns (in Spanien ist es so freundlich wie formell) bis zur Unhöflichkeit ungewöhnlich. Was Frankreich angeht, gibt es die Fama, dass jemand, der auch nur einen Tag Minister war, danach, sein ganzes restliches Leben lang ‚Monsieur le ministre!’ bleibt. Helmut Schmidt, wurde, nachdem er aufgehört hatte, Bundeskanzler zu sein, gelegentlich noch immer mit ‚Herr Bundeskanzler!’ angeredet. Je nach Laune ließ er sich dies gefallen oder aber der Betreffende erhielt die strenge Auskunft:„Mein Name ist Schmidt!“

Also – wie ist dies anderswo? In Österreich, in der Schweiz zunächst, dann in England, in den USA, in Frankreich, Italien, Spanien, in Polen, in Russland, in Dänemark und in Schweden, in Israel? Eine „Kleine Anfrage“ (nur so) an unsere „Korrespondierenden“. Nach der bekannten Auskunft seinerzeit von Radio Eriwan sind diese ja qualifizierter als die anderen. Da war die Frage gestellt worden, ob ein Analphabet Mitglied der Sowjetischen Akademie werden könne, und die Antwort hatte gelautet: „Ja, das ist möglich, allerdings nicht korrespondierendes Mitglied“. Somit: „korrespondierendes Mitglied“ ist eine Auszeichnung!

Hans-Martin Gauger, Mai 2013