Ingo Schulze
Finanzwirtschaft/Realwirtschaft

Der Begriff Finanzwirtschaft erregt für sich genommen keinen Anstoß – wer wollte bestreiten, dass in einer Bank gewirtschaftet wird. Wer die Filiale einer Bank oder Sparkasse besucht, kann sich ein Bild von dieser betriebsamen Haushaltung machen. Und selbst wer Home-Banking betreibt und sein Geld an der Kasse des Supermarktes abhebt, muss spätestens dann, wenn er einen Kredit braucht, sich an den Angestellten eines Geldinstitutes wenden.
Die Vergabe von Krediten an Privatpersonen oder Unternehmen, also die Bereitstellung von Geld für Investitionen, wird jedoch nur noch als „traditionelle Finanzwirtschaft“ bezeichnet. Denn die „moderne Finanzwirtschaft“ ist kein Diener oder Dienstleister mehr. In ihr geht es darum, die beste Anlagemöglichkeit zu finden, um eine möglichst hohe Kapitalrendite zu erzielen, das heißt, aus möglichst wenig Geld möglichst viel Geld zu machen. Betriebswirtschaftliche oder gar volkswirtschaftliche Überlegungen werden kurzfristigen finanziellen Erfolgsaussichten untergeordnet.
Dieser Sachverhalt erhielt einen sprachlichen Ausdruck in der Gegenüberstellung der Begriffe Finanzwirtschaft und Realwirtschaft.
Zum ersten Mal hörte ich mit Bewusstsein von einer „Realwirtschaft“ im September 2008, als befürchtet wurde, die Krise der Finanzwirtschaft könnte zu einer Krise der Realwirtschaft werden. Im ersten Moment glaubte ich, die Entgegensetzung würde ironisch gebraucht, als sei der Kommentar eine Satire – ähnlich war es mir bereits mit anderen Begriffen gegangen, beispielsweise mit dem Wort- und Sinnungetüm Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Doch es war ernst gemeint. Der Begriff Realwirtschaft wirft ein geradezu unheimlich zu nennendes Schlaglicht auf den Begriff Finanzwirtschaft. Das heißt doch: Die Finanzwirtschaft ist nicht real, sie ist keine reale Wirtschaft. Aber was ist sie denn dann, da sie doch dem realen Leben offenbar mehr Schaden zufügen kann als alles andere?
Der Begriff Realität leitet sich vom lateinischen res her, das Ding, die Sache, die Angelegenheit. „Real ist, was in re, nicht bloß in intellectu besteht“, heißt es in Rudolf Eislers „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“.
Im Deutschen haben wir außer dem Begriff Realität für das, was ist, noch den Begriff Wirklichkeit. Zu dem Substantiv gibt es im Deutschen ein Verb, das transitiv, also auf ein Objekt bezogen, verwendet werden kann.
So ließe sich sagen: Wirklich ist, was wirkt. Das heißt, ein literarischer Held wie Goethes Werther ist wirklich – er beeinflusste das Handeln vieler Menschen und hat Dutzende Selbstmorde auf dem Gewissen –, aber nicht real.
Ließe sich demnach sagen, die Finanzwirtschaft in ihrer modernen, heutigen Ausprägung ist zwar wirklich, aber nicht mehr real? Das verselbständigte Streben nach Kapitalrendite hat nichts mehr mit der Realität zu tun?
Das englische Verb to realize haben wir als „etwas realisieren“ eingebürgert. Im Englischen wie im Deutschen gibt es dieses Wort nur intransitiv. Offenbar aber brauchen wir es transitiv: Es geht darum, die Finanzwirtschaft zu realisieren, real zu machen, in die Realität zurückzuholen, tauglich zu machen für die Realität, für die realen Bedürfnisse und Interessen einer Demokratie.

Ingo Schulze, Oktober 2012