Hans-Martin Gauger
Noch einmal: die „grande nation“

Über den Ausdruck „grande nation“ habe ich mehrfach geschrieben (so in meinem Buch „Was wir sagen, wenn wir reden, Glossen zur Sprache“, München, Hanser, 2004). Aber es hat bei weitem nicht ausgereicht. Offenbar ist dieser Ausdruck aus unserer Sprache nicht wieder zu löschen. „So lass uns das doch!“, sagte mir ein Freund. Aber dies geht auch nicht. Wir tun den Franzosen da Unrecht. Auch wenn wir den Ausdruck nett, in guter Absicht verwenden.

Es ist ja so, dass in Deutschland (und in Österreich und in der Schweiz und ein wenig auch in England) die Ansicht herrscht, er sei so etwas wie ein Synonym für Frankreich. Statt ‚Frankreich’, wird gemeint, könne man ohne weiteres immer auch ‚die grande nation’ sagen. Vor allem Journalisten sind dankbar für dieses Synonym, denn Synonyme braucht man als Journalist. Wer den Ausdruck hört, meint, da er ja französisch ist, so würden die Franzosen sich selbst bezeichnen und also ihr Land verstehen. Das ist aber ganz und gar nicht so. Vielmehr ist – und dies nun wieder glaubt einem keiner ̶ dieser Ausdruck in Frankreich absolut unbekannt. Es ist aber tatsächlich so. Die Franzosen kennen den Ausdruck nur, wenn sie mit Deutschen oder Deutschsprachigen zu tun haben. Und wundern sich dann. „Mais qu’est-ce que c’est que ce truc avec la grande nation?” Dies, so sagte mir einmal ein französischer Konsul, habe er sich, als er nach Deutschland kam, immer wieder gefragt. Er habe den Ausdruck erst in Deutschland gelernt: „Ce n’est qu’en Allemagne que j’ai appris ça“. Und er fragte mich nach dem ‚komischen’ Begriff, wollte wissen, was es damit auf sich habe. Ich versuchte, ihn aufzuklären. Ich hatte mich damals gerade selbst darum bemüht.

Also, der Ausdruck entstand in Deutschland und zwar im frühen 19. Jahrhundert, in der Zeit also der sogenannten napoleonischen oder antinapoleonischen „Freiheitskriege“, und er hat sich, wie gesagt, bis heute hartnäckig, unausrottbar gehalten. Die Franzosen selbst haben ihn nur ganz kurze Zeit, nämlich von 1790 bis 1800, gebraucht, und da haben sie ihn ganz anders verstanden als wir ihnen heute unterstellen. Wir unterstellen, hinter dem Ausdruck stehe folgender schlichter Gedanke: es gibt viele Nationen, eine von ihnen und nur eine, sonst hätte der bestimmte Artikel „die grande nation“ ja gar keinen Sinn, ist die große und das ist Frankreich. Seinerzeit in Frankreich meinte man aber etwas sehr anderes, nämlich dies: Frankreich ist nun nicht mehr, wie zur Zeit der Könige ein Land mit einer Vielzahl von Provinzen, sondern eben eine einzige, von einer gewählten „Nationalversammlung" zentral gelenkte „große Nation“. Der Begriff bezog sich da also nicht nach außen auf andere Nationen, sondern war rein innenpolitisch: wir sind nun ein einheitliches, einheitlich und republikanisch gelenktes Land, „die eine und unteilbare Republik“, „la république une et indivisible“, wie die Formel lautete. Dahinter also stand das Pathos der neuen Republik, und die hat ja in der Tat die Provinzen abgeschafft, wollte sie quasi vergessen machen und hat an deren Stelle die absichtsvoll mit rein geographischen Namen bezeichneten „départements“ gesetzt: also etwa „Seine et Oise“ oder „Haute Marne“ oder „Haut Rhin“ (letzteres für das südliche Elsaß). Und der Zentralismus der Republik hatte ja ihr Vorbild im absolutistischen Königtum. Danach nun, schon mit dem frühen 19. Jahrhundert, haben die Franzosen den Ausdruck ziemlich rasch vergessen. Bei uns ist er aber ̶ und nun in jenem ganz anderen vergleichend nach außen hin gerichteten Sinn, wie er nie gemeint war ̶ bis heute erhalten geblieben. Wir haben da also zugleich etwas erhalten und es im Sinne eines ‚Frankreich über alles’ polemisch verändert.

Wirklich, es ist an der Zeit, den Ausdruck aufzugeben, definitiv. Er ist nicht nur auf unserer Seite ein Irrtum, sondern er hat auch für die Franzosen etwas Beleidigendes. Und wir gebrauchen ihn doch ja auch meist eher unnett in einem ironisch herablassenden Sinn: ach ja, die Franzosen mit ihrer „grande nation“. Und eine typische, uns aus der Presse sehr vertraute Wendung ist ja: ‚Die grande nation hat wieder einmal...’. Andererseits geht mit dem Ausdruck bei uns aber auch etwas wie heimliche Bewunderung einher und sogar etwas wie versteckter Neid, weil wir die wie selbstverständliche Ungebrochenheit des französischen Nationalbewusstseins im Vergleich mit dem unseren, das ja eher unsicher ist, bewundern und dies natürlich auch im Verein mit der von uns ebenfalls bewunderten „französischen Lebensart“ oder „Lebenskunst“, die uns spüren lässt, dass uns gerade da ̶ bei all unserer Effizienz, auf die wir stolz sind ̶ etwas fehlt.

Ich sage auch gar nicht, dass die Franzosen nicht auch ihren Stolz hätten. Den haben sie, zum Beispiel auch und besonders auf ihre Sprache. Nur eben: als die unter allen anderen „große Nation“ verstehen sie sich wirklich nicht. Oder, wie mir einmal ein Franzose sehr französisch hierzu sagte: “Wir Franzosen mögen ja viele Fehler haben, aber wir haben doch zumindest den Sinn fürs Lächerliche“, „Nous avons tout de même au moins le sens du ridicule“.

Darauf übrigens sind die Franzosen in der Tat auch stolz: auf ihren Sinn fürs Lächerliche. Man darf in Frankreich vieles sein, nur nicht lächerlich. Vor kurzem traf ich in Straßburg zum Mittagessen einen über hundertjährigen Kollegen. Charles Muller hatte nach dem Krieg in der Kulturpolitik der Franzosen in ihrer Zone und noch danach wichtige Posten. Und er kannte noch gut Alfred Döblin, der, wie man weiß, seinerzeit in französischer Uniform nach Deutschland zurückkehrte. Muller sagte, als ich danach fragte, dazu nur: „C’était du dernier ridicule!“ Also mich interessiert hier lediglich die sprachliche Form dieses wie definitiv abschließenden Urteils. Und nicht, ob es dem armen Döblin gerecht wird.

Übrigens gibt es zumindest noch zwei journalistisch häufige Länder-Synoyme: „die Alpenrepublik“ für Österreich, was ja ein wenig albern ist, abgesehen davon, dass es für die Schweiz genauso gälte, und dann für die Schweizer den Ausdruck "die Eidgenossen", welchen die Schweizer zwar kennen, der ihnen aber, soviel kann ich mit Sicherheit sagen, eher missfällt.

Und noch etwas: le savoir-vivre

Bei dieser Gelegenheit will ich gleich ein weiteres deutsch- französisches Missverständnis angehen. Als Helmut Schmidt einmal vor vielen Jahren, als er noch Bundeskanzler war, einen großen rhetorisch und schauspielerisch meisterhaften Auftritt im französischen Fernsehen hatte und zwar in der damals berühmten langen Sendung „L’heure de la vérité“, wurde er am Ende gefragt, was er denn an Frankreich am meisten bewundere. Da versank er in sekundenlanges nachdenkliches Schweigen und sagte schließlich ernst und wie traurig: „Le savoir-vivre“. Sicher meinte er da eben die ‚Lebenskunst’. Das Wort savoir-vivre scheint dies aber nur zu bedeuten, tatsächlich bedeutet es etwas anderes, nämlich: ‚gutes Benehmen’, ‚gute Kinderstube’. Der große „Petit Larousse“ definiert: „Connaissance et pratique des usages du monde“ – die theoretische Kenntnis also und die praktische Übung. Natürlich ist es interessant festzustellen, dass ein Wort, das ursprünglich tatsächlich ‚Lebenskunst’ bedeutete, sich zu ‚Höflichkeit’ verschoben hat, denn es steckt in diesem Wandel ja die Wahrheit, dass Höflichkeit das Leben enorm erleichtert, dass sie insofern tatsächlich zur Lebenskunst gehört. Was Helmut Schmidt meinte, hätte er französisch ‚l’art de vivre’ nennen müssen. Übrigens klatschten die anwesenden Franzosen dennoch begeistert, weil sie ja auch, bekanntlich, das gute Benehmen, die Höflichkeit für eine speziell französische Domaine halten.

Hans-Martin Gauger, November 2010